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«Wandzeitung» vom 8.11.2017:

viel information, wenig inspiration:

wie uns das denken abhanden kommt.

wann kommen mir eigene gedanken? wenn ich allein über land gehe. wenn ich nachts wach liege und nicht so bald wieder einschlafen kann. wenn ich vor einem weißen blatt sitze oder vor einem leeren bildschirm. es ist etwas wunderbares mit den gedanken, die uns zufallen. auch wenn lange nicht alle bestehen vor des tages klarheit und viele wieder zerbrösmeln, sobald wir sie festhalten und aufschreiben wollen.

aber die menschen, denen ich täglich begegne … die wenigsten von ihnen gehen allein über land. ob sie nachts manchmal nicht schlafen können – ich weiß es nicht. oder ob sie auch hie und da vor einem weißen blatt sitzen? die leute, die ich um mich sehe, blicken auf das smartphone, blättern in der gratiszeitung, bewegen sich in geschwätziger umgebung oder lassen sich die ohren vollschwemmen mit dem, was aus ihren ohrstöpseln kommt. ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie sich da noch ein eigener gedanke bilden kann.

ruhe suchen, das wäre die antwort. nicht erst heute. schon im mittelalter, als die welt noch weniger lärmig war, gab es menschen, welche stille suchten und ins kloster gingen. es waren wenige, aber sie hatten eine große wirkung. die abendländische kultur, so scheint es mir, fußt auf dem tun und dem nachdenken der mönche und der nonnen, auf ihrem ora-et-labora. sie suchten die inspiration in den heiligen schriften, und was ist das anderes: sie suchten eigene gedanken. haben sie sie gefunden? ich lernte einen mönch kennen, der auf ein langes leben zurückblickte, einen zisterzienser. er sagte etwas erstaunliches. weißt du, sagte er zu mir, ich bin hier im kloster in all den jahren nicht zum eigentlichen gekommen; fünf mal jeden tag wurde ich herausgerissen zum stundengebet; ich konnte meiner bestimmung nicht gerecht werden; ich kam nicht zur ruhe. offenbar, dachte ich, kann auch das kloster die kontemplation nicht garantieren.

unter all den umtriebigen menschen erschrecken mich am meisten jene jungen mütter, die ihr kind in den kinderwagen «abgelegt» und nun ihr handy am ohr haben. wenn es sünden gibt auf dieser welt, das wäre eine: nicht dasein, sondern dortsein. zeit zu haben und zu nehmen für sein eigenes kind, ist das wirklich so langweilig? wenn dann dieses kind, das der mutter offenbar nicht wichtig genug war, in die schule kommt, sollen wir uns da wundern, wenn es sich nicht konzentrieren kann und zerstreuung sucht und show?

mit mächtigem zwang werden wir alle von sensationen angezogen. wir sind neu-gierig, gierig auf neues, auf abwechslung, auf sinnliches erleben. ganz besonders attraktiv sind bewegte bilder und lärmiger sound. neugierde ist der antrieb für menschliche entwicklung, für wissenschaft und technik. wenn sie uns aber allzu sehr nach außen verführt und in den bann zieht, diese neugierde, dann verstopft sie unser eigenes denken. soll ich mich vielleicht doch dazu entschließen, die tagesschau auszulassen?

 


Alfred Vogel,
8.11.2017, 116. Jahrgang, Nr. 312.

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Standpunkte:

21.12.2017, 11:50 Uhr.

Brian schrieb:

Super beschrieben! :-)


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