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«Wandzeitung» vom 12.5.2017:

Meine Grossmutter war ein blinder Fleck in der Familiengeschichte:

39 lange Jahre in Münsterlingen.

Die Mutter meines verstorbenen Vaters war 40 Jahre alt, als sie 1940 in die Psychiatrische Klinik Münsterlingen eintrat. Damals hiess die Klinik Thurgauische Irrenanstalt. Meine Grossmutter verbrachte 39 Jahre dort, bis sie im Jahr 1979 verstarb.

Mein Vater hat in seinen letzten Lebensjahren immer wieder von seiner leiblichen Mutter erzählt. Seine Stiefmutter habe sich «recht» um ihn und seine Schwester gekümmert, aber Mutterliebe hätten sie keine gekriegt. Über meine Grossmutter sei daheim nicht gesprochen worden, sie war ein Tabu. Als meine Eltern 1967 aus Chile in die Schweiz zurückkamen, regte meine Mutter meinen Vater an, seine Mutter wiederzusehen. Meine Grossmutter erkannte ihn nicht, mein Vater war frustriert und bedauerte, nicht früher zu ihr gegangen zu sein.

Nachdem mein Akteneinsichts-Gesuch beim Staatsarchiv Thurgau gutgeheissen worden war, habe ich mich in den letzten Monaten meiner Grossmutter angenähert. Ehrfürchtig sass ich jeweils über den Dokumenten, es war seltsam, plötzlich so viel Detailliertes über die Mutter meines Vaters zu erfahren. Was sie fühlte, kann ich nur erahnen. Das Aktenstudium wirkt nach, ich mache mir noch ein Bild von ihr. Ich las, dass sie oft wütend war, laut wurde und schimpfte. Zuweilen rief sie das Personal Mörder. Besonders viel wurde im Eintritts-Jahr 1940 notiert. Ihr Ehemann, mein Grossvater, und ihre Schwester, wo sie eineinhalb Jahre vor ihrer Einlieferung lebte, kommen auch zu Worte. Ein handgeschriebener Lebenslauf von meiner Grossmutter liegt vor.

Im Eintrittsjahr 1940 wurden diverse Tests mit meiner Grossmutter gemacht: Assoziative Wort-Übungen, der Rorschachtest, sie wurde über Geografie und Geschichte ausgefragt, musste Rechnungen lösen und Fangfragen beantworten. Letztere meisterte sie bravourös. Geografie und Geschichte gehörten zu ihren Lieblingsfächern in der Schule, mit Zahlen hingegen hätte sie immer schon Mühe gehabt, wird sie zitiert. Meine Grossmutter war eine schlaue, handwerklich begabte, feingliedrige Frau, die ihr Herz auf der Zunge trug. «Krankhaft eigensinnig» sei sie gewesen. Der Zwist mit einer Familienangehörigen beschäftigte sie sehr. Immer wieder dachte sie daran herum, glaubte, alle hätten sich gegen sie verschworen. Paranoide Schizophrenie wurde ihr diagnostiziert.

Sie bekam Beruhigungsmittel verabreicht, die sie ruhig stellen sollten. In den 1950er Jahren kamen Schizophrenie-Medikamente dazu, gerade neu auf dem Markt. Opfer der Kuhn’schen Medikamentenversuche – Roland Kuhn arbeitete ab 1939 als Psychiater an der Klinik Münsterlingen und war von 1971 bis 1980 Direktor dort – sei sie nicht gewesen. Opfer des damaligen Unwissens schon. Denn lebte meine Grossmutter heute, hätte sie gute Chancen, nach einem Klinikaufenthalt trotz diagnostizierter Krankheit mit den richtig eingestellten Medikamenten zu ihrer Familie zurückkehren zu können.

Seit Frühling 2016 untersuchen fünf Historikerinnen und Historiker unter der Leitung von Marietta Meier die Psychopharmakaforschung der Klinik Münsterlingen. Auftraggeber ist der Kanton Thurgau, der die Kuhn’schen Medikamentenversuche bis 2018 aufgearbeitet haben möchte.


Rosmarie Schoop,
12.5.2017, 116. Jahrgang, Nr. 132.

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Standpunkte:

3.6.2017, 07:24 Uhr.

Haymo Empl schrieb:

Der persönlich geschriebene Beitrag berührt. Die Schlussfolgerung: ... heute hätte sie gute Chancen... soll ein Aufruf sein zu überlegen, was die nächste Generation zu unseren Taten sagen wird. Müssten sie auch schreiben ... heute würde man ...? Damals wie heute gab und gibt es weitblickende Menschen. Hören wir ihnen zu?


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