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«Wandzeitung» vom 22.1.2018:

Ich rege mich während des Autofahrens immer auf:

Doch irgendwann muss man aufhören.

Ich muss zugeben: Ich rege mich während des Autofahrens immer auf. Ich bin eine jener Personen, die sich irgendwie verwandeln, sobald sie die Fahrertür neben sich zuziehen. Dann werde ich eine aufbrausende, fluchende, ausladend gestikulierende Version von mir selbst, sozusagen ein Auto-Alter Ego. Gerade ich, die sich vorgenommen hatte, niemals in irgendeiner Weise rücksichtslos oder auch nur 5 km/h zu schnell zu fahren. Gerade ich, die – sehr zum Leidwesen meines gesamten autofahrenden Umfelds – mit Ratschlägen und appellatorischer Vorsicht als Beifahrerin nicht geizt. Ich bin mir dessen sehr bewusst und würde es gern ändern. Deshalb habe ich es mir im Stillen ein bisschen zu einem Neujahrsvorsatz gemacht, im Auto mehr Verständnis für die anderen aufzubringen. Das ist aber, wie mir aufgefallen ist, gar nicht so einfach. Eingefahrene Verhaltens- und vor allem Denkmuster lassen sich nur schwer überwinden und durch neue ersetzen.

Als ich mich während einer ebensolchen Autofahrt vor einigen Tagen von einem seichten Radio-Gespräch berieseln liess, machte eine der Moderatorinnen einen Vorschlag, der mich begeisterte: Wir alle sollten Antennen an unseren Fahrzeugen anbringen, welche in verschiedenen Farben aufleuchten. Zum Beispiel blau für "Ups, sorry!", oder lila für "Merci fürs Inelaah!". Wäre das nicht bereichernd?

Denn: Alle anderen beurteilen wir nach Taten, uns selbst jedoch nach Motiven. Wenn mir ein anderer Autofahrer signalisieren könnte, dass er mir den Vortritt nicht heimtückisch nehmen wollte und sich nun dreckig ins Fäustchen lacht, sondern mich in der Hektik einfach übersehen hat, wäre meine Wut fast verflogen.

Ich begegne diesem Faktum mit meiner eigenen Fantasie. Fährt mir jemand zum Beispiel zu nah auf, stelle ich mir einfach vor, er oder sie habe grauenhaften Durchfall, schon den ganzen Tag, und wolle einfach ganz, ganz dringend zur nächsten Toilette. Fährt jemand mit 60 km/h in einer 80er-Zone, stelle ich mir meine Grossmutter vor, die besonders vorsichtig unterwegs ist, damit die selbstgebackene Torte auf dem Beifahrersitz nicht verrutscht.

Obwohl ich während des Autofahrens mit meinen Mitmenschen viel härter ins Gericht gehe als mit mir selbst, ist es sonst bei mir eher umgekehrt. Ich glaube, das geht fast allen so. Niemals würde ich es wagen, einer anderen Person ins Gesicht zu sagen, was ich mir selbst gedanklich zuschreie, wenn ich mich manchmal im Spiegel betrachte. Nie könnte ich es verantworten, einem Mitmenschen aufgrund eines kleinen Fehlers, einer Lappalie, grundsätzliche Unfähigkeit in sämtlichen Lebensbereichen zu unterstellen. Mit mir selbst jedoch bin ich unerbittlich und oft unfair und grausam.

Im Grunde verhalte ich mich mir selbst gegenüber so, wie ich es während des Autofahrens mit allen anderen tue. Deshalb mein abgeänderter Vorsatz fürs neue Jahr, Jahrzehnt, für die Zukunft: Verständnis aufzubringen nicht nur für die anderen, sondern in erster Linie auch für mich selbst. Irgendwo muss man ja schliesslich anfangen.


Anita Hofer,
22.1.2018, 117. Jahrgang, Nr. 22.

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