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«Wandzeitung» vom 22.5.2018:

Stellen Sie sich einfach das Blamabelste vor, was ihre Fantasie zulässt:

Mir ist etwas sehr Peinliches passiert.

Mir ist letztens etwas sehr Peinliches passiert. Es war dermassen beschämend, erniedrigend und grauenvoll, dass ich es auf keinen Fall ausformulieren und niederschreiben kann, weswegen Ihrer Vorstellungskraft keinerlei Grenzen gesetzt sind: Stellen Sie sich einfach das Peinlichste vor, was Ihre Fantasie zulässt. Das ist mir passiert.

Als ich jedoch einige Tage nach dieser fundamentalen Erschütterung meines Selbstbewusstseins aus meinem selbstgewählten Versteck (aka: den Tiefen meines Sofas) kroch und mich gezwungenermassen mit dem Geschehenen und damit, was es in mir selbst bewirkt hat, auseinandersetzte, tauchten in meinem Gedanken- und Verdrängungsprozess plötzlich grundlegende Fragen auf:

Warum schäme ich mich überhaupt so? Und was genau ist Scham eigentlich? Definitionsgemäss nach Wikipedia ist sie ein «Gefühl der Verlegenheit oder Blossstellung, das durch Verletzung der Intimsphäre auftreten oder auf dem Bewusstsein beruhen kann, durch unehrenhafte, unanständige oder erfolglose Handlungen sozialen Erwartungen oder Normen nicht entsprochen zu haben.»

Scham ist also ein Produkt unseres komplexen gesellschaftlichen Normenkonstrukts. Was mich zu einer weiteren Frage führte: Spüren Tiere, welche über ein weniger ausgeklügeltes soziales Regelwerk verfügen, ebenfalls Scham? Ich denke an meinen Kater, welcher jedes Mal, wenn er zu schnell die Treppe hinaufrennt, ausrutscht. Oder wie er einmal eine Biene jagte und furchtbar erschrak, als er sie endlich erwischte. Fühlt sich mein Kater blamiert, wenn ich ihn auslache, weil er sich in der Tagesdecke eingewickelt hat und nicht mehr aus dem Knäuel herausfindet? Man merkt es ihm jedenfalls jeweils nie an; er steht jeweils auf und tut einfach so, als wäre nichts gewesen.

Scham erfordert vom Beschämten, dass er sich in eine andere Person hineinversetzen und mit den Augen eines Beobachters auf sich selbst blicken kann. So gesehen ist Scham ein Zeichen von Empathie und dient ausserdem einem Zweck: der Konformität. Wenn Verstösse gegen soziale Normen peinlich und deshalb schmerzvoll sind ("peinlich" enthält "Pein"), passen wir uns besser an, um dieses Gefühl möglichst zu vermeiden. Wir schämen uns aber für so vieles, auch für Dinge und Handlungen, die nicht in unserer Entscheidungskompetenz liegen und für die wir nichts können. Das vollkommen natürliche Entweichen von Gas aus dem menschlichen Körper beispielsweise (egal ob oben oder unten) ist so stark verpönt, dass es teilweise während Jahrzehnten vor dem jeweils anderen Ehepartner versteckt wird, als würde dieser deshalb glauben, es komme überhaupt nicht vor. Irgendwie schon dämlich. Sollten wir also in Zeiten der immer stärker ausgedehnten Individualität schamloser sein? Ist Scham eigentlich konformistisch und uncool? Sollten wir uns schämen, uns zu schämen?

Nein. Der Mensch ist ein Gruppentier, was ihm den evolutionären Vorteil verschafft hat, von dem wir heute alle profitieren. Konformität ist nicht per se schlecht. Aber in Anbetracht meiner Beschämung wünschte ich, ich könnte mehr wie mein Kater sein: einfach aufstehen und so tun, als wäre nichts gewesen.

 


Anita Hofer,
22.5.2018, 117. Jahrgang, Nr. 142.

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