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«Wandzeitung» vom 17.5.2018:

Zdravím:

Já jsem návštěvníky:

Hallo, ich bin der Besucher. Mit dieser Vorfreude setzen wir uns in den Nachtzug Zürich – Prag. Zum Glück gibt es die ÖBB, welche an diesen Nachtzügen festhält, alle anderen haben vor den Billigflugangeboten kapituliert.

Wir beziehen unser Abteil. Schuhe aus, Füsse hoch, Reisproviant – dieses Mal Käse, Brot, Oliven, 2 Bier und die letzte Schweizer Schokolade. Wir müssen uns nicht zurückhalten, haben wir uns doch ein 2er-Schlafabteil mit Zmorgen gegönnt. Es ist gemütlich und unser ökologisches Gewissen bleibt ein bisschen reiner – Prost Prag, wir freuen dich kennenzulernen.

Ausgeruht und entspannt, gehen wir zu Fuss zu unserer Unterkunft. Zum Glück haben wir den Plan aus dem Bibi-Reiseführer, sodass wir das Gewusel von Menschen in Nebenstrassen umgehen können. Erste Eindrücke – wir sind neugierig. Im airbnb ein kleiner Dämpfer: 5er- Pension mit minimalster Küche, hier wird mehr die Rendite als der Kontakt zu den ankommenden Menschen gesucht. Na ja, macht nichts, wir wollen ja raus und die Wetterprognosen sind ausgezeichnet.

Gut, dass wir im Zentrum gebucht haben, nur wenige Schritte und .... wir sind in der vollsten Touristen-Masse. Uff, kann das noch gesund sein? Im Reiseführer hat es schon etwas in der Art von überfüllt geheissen, aber so viele? Bereits im Frühling? Das macht keine Lust, wir flüchten ins Aussenquartier. Zum Glück hat mein Internet gezeigt, heute spielt Slavia Prag. Die erste Wurst, das erste Bier und die Atmosphäre so wunderbar anders. Auf dem Heimweg vorbei an Wohnungen und Quartierläden, mal ein Beizli und die sonst scheinbar eher mürrischen Tschechen lächeln sogar auf unser eingeübtes, aber sicher falsch betontes Děkuji – Danke.

Logisch landen wir wieder im überfüllten Zentrum, mitten auf dem Ratshausplatz. Die Karlsbrücke, das haben wir von weitem gesehen, wollen wir uns heute nicht antun. Es fällt schwer ein gemütliches Restaurant zu finden. Wir starten unser Notprogramm und gehen ins Pub, da weiss man was man hat. Läuft gut und Englisch können hier auch alle – unser Dobrý Večer wird mit hello quitiert. Später noch ein bisschen durch die Gassen und wir merken schnell, in dieser Stadt hat es eine Spur dichtgefüllt mit Menschen, Kitsch und Ramsch, natürlich auch mit Glace- und Trdelnikstände. Das Geschäft läuft gut, aber für wen eigentlich?

In der Nacht bei offenem Fenster wache ich immer wieder auf, sei es durch eine Polterabendhorde, sei es durch die Gruppe, welche mit Bluetoothboxen dem ganzen Quartier ihre tollste Musik vorspielt, sei es durch den Schluss im nahen Lokal um 4:00, bei dem die ganze Stimmung auf die Strasse geschwemmt wird. So viel einfaches Glück, das in den Nachthimmel gegrölt sein will.

Die verkehrte Welt macht mich nachdenklich: Will man eigentlich das Fremde besuchen, oder geht es darum sein Fremdes in die Stadt zu bringen. Was für ein Verständnis? Will man wirklich Neues kennenlernen oder soll es umgekehrt einem mal so richtig ungefiltert kennenlernen? Bei solchem Tourismus kann man nur noch, „na dann Dobrou Noc“ sagen.

 


Christoph Baumann,
17.5.2018, 117. Jahrgang, Nr. 137.

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