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«Wandzeitung» vom 21.6.2015:

Eine Fluggeschwindigkeit von 900 Stundenkilometern überfordert uns:

Mit Zug statt mit Flug nach Berlin.

Die Fahrt ab Basel mit dem Zug – an Millionen von Bäumen vorbei und an Hunderten von Gemeinden mit geringer Grösse wie Dutzenden von kleinen Stationen – mit Halt am Badischen Bahnhof, Freiburg, Offenburg, Karlsruhe, Mannheim, Frankfurt am Main, Hanau, Fulda, Kassel, Göttingen, Hildesheim, Braunschweig und Wolfsburg ist Mal für Mal ein entzückendes Erlebnis. Die Weite Deutschlands beeindruckt auch bei der zwölften Fahrt wie bei der ersten in gleicher Richtung. Und das Herz klopft schon höher, wenn das Hirn an die grosszügige, aber dennoch filigran kreierte Halle des Berliner Hauptbahnhofs denkt.

Wir brausen mit gefühlten 250 Stundenkilometern ganz schnell der Hauptstadt der Dichter und Denker entgegen. Und doch ist das menschliche Auge in der Lage, die wunderbar weite Landschaft der Bundesrepublik zu erkennen, wahrzunehmen, dass das, was in der Schweiz – mit ihren gemächlichen politischen Bewegungen – verschläft, in unsrem Norden im Tempo des gehetzten Affen perfekt umgesetzt wird: die Energiewende. Unzählige wohlgeformte Windräder – in unterschiedlichsten Gruppierungen – zieren die zauberhaft schöne wie grosse Landschaft unserer deutschen Nachbarn. Der Düsseldorfer Heinrich Heine schrieb weiland über seine Landleute: die Deutschen seien ein Volk, in dem keiner so verrückt ist, dass er nicht noch einen Verückteren fände, der ihn versteht. Diesbezüglich sind übrigens alle deutsch-affinen Schweizerinnen und Helvetier kein bisschen anders: Jede und jeder von ihnen will sich garantiert mehr über die Berlinreise freuen als alle anderen Touris. Voll blöd! Die Hauptstadtmenschen sind eh zu Frau Jededame und Herrn Jedermann nett. Ich weiss das.

Äxgüsi, aber ich spüre halt auch das Blut meiner Grosseltern in den Adern. Die leider schon in meinen Jugendjahren verstorbene Grossmutter väterlicherseits kam aus dem süddeutschen Raum. Der Grossvater aus Rotenburg ob der Tauber zog es sogar vor, schon vor meiner Geburt zu sterben. Er floh während des ersten Weltkriegs über Russland nach Winterthur und war fortan ein fleissiger und durstiger Sozi-Schneidermeister, den ich mental verehre. Auch mit dieser hohen Geschwindigkeit des Zuges lässt es die Seele nämlich zu, in Gedanken zu versinken. Und der Gaumen meines Schätzlis weiss Maultaschen nach Schwäbischer Art mit Speck-Zwiebel-Schmelze für 12 Euro 90 sehr zu schätzten. Mir mundet das Schweinerückensteak mit Schafskäsefüllung und Tomatenragout wie die Spinatbandnudeln für 14 Euro 90. Auch die zwei Deziliter des kräftigen Tempranillos, Jahrgang 2010, fliessen hurtig über die Binden und sind die 8 Euro 50 wert.

Ja, wir haben uns aus unehrenhaften Gründen auf die grad nicht bestreikte Zugsreise umbesonnen. Unser letzter Flug aus Berlin mit einem 900er drauf war nämlich ein abenteuerlicher: Böen schüttelten den lufthansschen Swiss-Flieger erklärungslos derart in alle Richtungen, dass sich selbst fremde Menschen übern Gang hinweg die Hände hielten, weil sie das Ende ihrer Tage fürchteten. Doch wir erlebten bloss einen harten Aufschlag auf die Piste, verbunden mit dem letzten Gedanken: Lieber die Nase nicht so hoch in der Luft als den Hintern unterm Boden.


Guido Blumer,
21.6.2015, 114. Jahrgang, Nr. 172.

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