Logo Wandzeitung
Herausgeber: Guido Blumer & Roger Rutz.
Archiv:   Blog:   Echo:   Home:   Kontakt:   Leitbild:   Partner:   Sponsoren:   Twitter

«Wandzeitung» vom 10.6.2014:

Rückspiegel:

1864: Von Reichen, Armen und sozialem Engagement.

Abstimmungspropaganda: Die Unternehmer drohen mit Arbeitsplatzverlust und damit, die Fabriken zu verlegen. In einem Flugblatt heisst es auch: «Wenn ein Kind per Tag zwölf Arbeitsstunden hat, so bleiben zur Erholung: eine Stunde zu Mittag, drei Stunden zur Bewegung im Freien oder für jugendliche Spiele und Beschäftigungen überhaupt und acht Stunden für die nächtliche Ruhe. (...) Wenn aber die Kinder nur einen halben Tag arbeiten dürfen, was soll man dann mit ihnen während des anderen halben Tages anfangen? Und wenn sie dann künftig nur den halben Lohn heimbringen, werden sie dann nicht schlechter genährt und geringer gekleidet werden müssen als bisher?»

Richtig, bei der Vorlage geht es um soziale Verbesserungen. Und auch wenn die Argumente stark an die letzten beiden Abstimmungskämpfe zur 1:12 Initiative und zur Mindestlohninitiative erinnern, so sind wir doch mit einer Zeitreise fast 150 Jahre zurückgereist. Der Abstimmungskampf geht um ein neues Fabrikgesetz, das die Zehn-Stunden-Tage für alle und ein Verbot der Kinderarbeit bringen soll. Die Forderungen stammen unter anderem vom Arbeiterverein Töss, der 1865 als einer der ersten Arbeitervereine der Schweiz überhaupt gegründet wird. Eine kurze Rückblende.

1864. Die Schere zwischen Reich und Arm ist etwa gleich weit offen wie heute. Damals besitzen die zehn reichsten Zürcher Familien rund 70 Prozent aller Vermögenswerte – heute sind es 5 Prozent, die 90 Prozent aller Vermögenswerte besitzen. zwischen 1950 und 1990 hat sich dieses Verhältnis etwas ausgeglichen, seither öffnet sich die Schere wieder.

Vor 150 Jahren hat sich in Winterthur einerseits ein reiches Unternehmertum, andererseits ein industrielles Proletariat herausgebildet. Elfjährige Kinder arbeiten zwölf Stunden täglich zu einem Taglohn von einem Franken. Politisch haben die Arbeiterinnen und Arbeiter nur wenige Rechte. Das Grossbürgertum beherrscht die politische Landschaft des Kantons Zürich. Demokratie gibt es nur für die Reichen. Ende 1864 verfasst ein unbekannter Tössemer Arbeiter ein Flugblatt, mit dem die Arbeiter in den Hirschen in Töss eingeladen werden, um einen Arbeiterverein zu gründen. Nur wenig später ist es soweit: Am 18. Februar 1865 wird der Arbeiterverein Töss offiziell gegründet. Im Zweckartikel heisst es unter anderem: «Der Verein stellt sich die Aufgabe der Einigung und Brüderlichkeit unter den Arbeitern. Er verfolgt diesen Zweck auf dem Wege der Unterhaltung, Bildung, über Arbeiterinteressen und allgemein wichtige Fragen sowie durch Sammlungen materieller Hilfsmittel zur gegenseitigen Unterstützung und Handreichung bei vorkommender Not oder in schwieriger Zeit.»

Der Arbeiterverein Töss bildet so vor beinahe 150 Jahren eine der ersten Zellen der späteren sozialdemokratischen Partei wie auch des heutigen Coop... Tössemerinnen und Tössemer wandern in jener Zeit jedes Wochenende im ganzen Kanton herum, um für das neue Fabrikgesetz zu mobilisieren. Heute sind wir uns kaum bewusst, wie viel wir ihrem Engagement verdanken.


Matthias Erzinger,
10.6.2014, 113. Jahrgang, Nr. 5.

Artikel als PDF downloaden

Zu diesem Artikel wurde noch kein Standpunkt abgegeben.

 

Veröffentlichen Sie als erste Person Ihren

Standpunkt*:

Name:

*Wir freuen uns sehr über Ihre Gedanken zum Text des Tages, bitten Sie jedoch, keine Personen zu verunglimpfen und deren Haltung mit Respekt zu begegnen. Danke schön. Verstösse gegen unser Leitbild werden indes nicht verbreitet.

 

Winterthurs kleinste Zeitung der Schweiz.