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«Wandzeitung» vom 10.10.2015:

Meinungsblabla:

Was ist Ihre Lieblingsfarbe?

Eine Meinung zu haben, ist bei uns seit jeher erstrebenswert. Kinder sollen sich in der Schule nicht nur Wissen aneignen, sondern lernen über Dinge nachzudenken und sich eine Meinung bilden. Schliesslich leben wir in einer Demokratie und haben das Recht und die Pflicht mitzureden und mitzuentscheiden. In vielen asiatischen Ländern ist es ja genau umgekehrt. Eine Freundin, die in Japan als Englischlehrerin arbeitet, erzählte mir neulich, dass ihre Schülerinnen und Schüler sogar zögern, wenn sie nach ihrer Lieblingsfarbe gefragt werden. Niemand will sich dort durch eine eigene Meinung von der Masse abheben. Politische und gesellschaftliche Themen werden kaum je diskutiert. Wie so oft, wäre eine Mischung zwischen diesen beiden Kulturen erstrebenswert. Denn bei allem Respekt für die Demokratie und den mündigen Menschen, dürfen wir nicht vergessen, dass Meinungen niemals Wahrheiten sind und deswegen stetig hinterfragt und angepasst werden müssen, sonst verkommen sie zu Dogmen. Die politische Diskussion in der Schweiz wird zunehmend dogmatisch geführt. Die Rechten sagen, die Linken wollen unser Land mit einer Massenmigration zerstören. Die Linken sagen, die Rechten zerstören unser Land mit einer unmenschlichen Abschottungspolitik. Eine Meinung zu haben ist einfach. Man braucht sich Roger Köppel nur anzuschauen und ihm zuzuhören, um ihn genial oder unmöglich zu finden. Ein Urteil ist rasch und mühelos gefällt. Schwieriger ist es, in dem globalen, politischen und wirtschaftlichen Wirrwarr den Überblick über die Fakten zu behalten. Und es ist vorallem auch mühsam Zahlen und Sachverhalte zu recherchieren. Erschwerend kommt hinzu, dass auch Fakten manipuliert werden können. Sie sagen je nach Darstellung und Auswahl etwas anderes aus. Was also tun? Ich weiss es leider auch nicht. Ich habe gerade keine pointierte Meinung in dieser Frage. Sorry.

Die Meinungskultur ergiesst sich bei uns auch über ganz harmlose Themen. Das klingt dann etwa so: Enrique Iglesias ist schwul, Leonardo DiCaprio der beste Schauspieler aller Zeiten, behaarte Frauenbeine sind widerlich, nur schlanke Frauen sollten Shorts tragen, Zürcher sind arrogant, Migros ist besser als Coop und so weiter. Sie ahnen worauf ich hinaus will. Unsere Meinung ist zuweilen von einer erschreckenden Oberflächlichkeit und Irrelevanz. Ist es wichtig, was ausgerechnet ich denke? Gerade wenn ich mir einbilde, eine besonders originelle und schlaue Meinung zu haben, sollte ich diese regelmässig hinterfragen und mir überlegen, ob sie unbedingt kundgetan werden muss. Warum muss ich meine Meinung heraus posaunen? Was erhoffe ich mir davon? Will ich jemanden überzeugen? Oder will ich nur mich selbst darstellen und profilieren?

Haben Sie eine Lieblingsfarbe? Falls nicht, gratuliere ich Ihnen zu dem Privileg, alle Farben zu mögen oder keine oder jeden Tag eine andere.

 


Anita Blumer,
10.10.2015, 114. Jahrgang, Nr. 283.

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Standpunkte:

11.10.2015, 10:36 Uhr.

Rosmarie Schoop schrieb:

Intelligent und inspirierend: Herzlichen Dank für diesen wundervollen Start in den (Online-)Sonntag!


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