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«Wandzeitung» vom 18.2.2015:

What a wonderful world:

Das Leben einer Pensionierten.

Meine Erwerbstätigkeit habe ich vor einem Jahr aufgegeben. Alle, denen ich seither zum ersten Mal begegne, fragen mich nach meinem Befinden, skeptisch die einen, bemitleidend andere und neidisch wieder andere. Hier eine unvollständige Auswahl meiner Antworten.

Ich habe nun viel mehr Zeit. Die Aussage ist natürlich falsch. Denn alle haben wir gleich viel Zeit, vierundzwanzig Stunden im Tag an 365 Tagen im Jahr. Somit präzisiere ich: ich habe viel mehr von dem, was sich während der Berufstätigkeit Freizeit nennt. Ich kann mehr Bücher lesen als vorher, ich kann mehr ins Theater, ins Kino, in Konzerte, mehr jassen, mehr Schach spielen. Und ich kann das alles viel entspannter als früher. Ich kann ausgedehntere Zeitungsartikel lesen, für die mir früher die Zeit fehlte. Etwa kürzlich den ganzseitigen Bericht des Feuilletonredaktors in der NZZ über eine Wanderung durch die Mark Brandenburg (seine, nicht die von Theodor Fontane) im Hinterland von Berlin, die nicht nur eine Begegnung mit einer unberührten Natur ist, sondern auch ein Bewusstwerden so vieler geschichtsträchtiger Ereignisse, die sich im vergangenen Jahrhundert dort abgespielt haben.

Wenn ich Bekannten begegne, habe ich Zeit für einen Austausch, der weit über den Smalltalk hinausgeht. Oder ich kann spontan mit jemanden den bekannten Kafi trinken gehen, ohne dauernd auf die Uhr zu schauen. Auch habe ich in diesem ersten Jahr so viele Leute getroffen, mit denen ich über sehr lange Zeit nie mehr ins Gespräch gekommen bin, weil ich immer gerade etwas vor hatte. Und heute ergeben sich beglückende Begegnungen.

Ich bin auch in ein geschlossenes facebook-Grüppli hineingerutscht. Nicht, dass ich sonst keine Kontakte hätte. Aber die Begegnungen mit diesen Frauen, die ich zuvor nur zu einem kleinen Teil kannte, ist eine Bereicherung. Ich meine damit nicht (nur) den Austausch über die Elektronik, sondern das reale Zusammensein. Ich war mit einigen im Kunsthaus (Zürich) und eine aus unserer Gruppe zeigte uns darnach ihren Arbeitsort mitten in der Altstadt von Zürich. Ein andermal an einer Geburtstagseinladung. Und wieder ein andermal trafen wir uns zu dritt spontan zum Kaffee, wo sich total anregende Gespräche ergaben.

Da der Speicher meines fünfjährigen iPhones voll war, brauchte ich ein neues. Auf ihm höre ich sehr oft beim Gehen Musik. Deren Qualität ist fantastisch. Ein Quantensprung gegenüber meinem alten Gerät, vergleichbar mit dem Sprung damals vom Grammophon zur CD. Ich höre auch auf einmal Texte, die ich noch nie so richtig wahrgenommen habe, weil ich bisher mehr auf die Melodie geachtet hatte.

Und noch etwas: Ich gehe anders durch die Gegend. Wenn ich früher bei der Ankunft im Büro kaum wusste, wo ich durchgegangen bin, nehme ich nun alle Details auf. Die Wolken, den Himmel, die Menschen, die Bäume, die Vögel. Es ist das Glücksgefühl, das Louis Armstrong und viele andere am Schluss ihres Liedes mit den Worten ausdrücken: I think to myself, what a wonderful world.


Ruth Huber,
18.2.2015, 114. Jahrgang, Nr. 49.

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