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«Wandzeitung» vom 15.1.2015:

EIN SATZ:

Ich fühle, also bin ich.

Wovor sich Radfahrer wirklich fürchten: Eine kleine Minderheit hat Angst vor einem Unfall infolge Zusammenstosses, Bremsversagen beim Bergabfahren oder Einhängen des Vorderrads in der Strassenbahnschiene. Die grosse Mehrheit jedoch hat Angst davor, dass der Fahrradhelm die Frisur ruiniert. GEFÜHLTE WAHRHEITEN, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, nein er muss auch fühlen. Nicht, weil er nicht hört, das ist längst vorbei, und, was man hören soll, geht im allgemeinen Geschrei nachhaltig unter. Und er muss auch nicht zwingend nur die erhabenen Gefühle fühlen, die in der Literatur als romantisch bezeichnet werden, etwa die Liebe. Oder die anderen starken, grossen wie Geiz, Neid und Hass.

Nein, es genügt die gefühlte, gewöhnliche Befindlichkeit, die sich häufig mit den unromantischen starken, grossen Gefühlen paart. Philosophisch betrachtet wird so gefühlte Erkenntnis zur Wahrheit. Und gefühlte Begünstigung zur Gerechtigkeit. In den Blogs tobt der anonyme Mob entsprechend dem, was er gerade empfindet, genährt durch unvollständige Informationen und angestachelt durch unreflektierte Befindlichkeit.

Nahrung erhält der Mob aus dem gegenseitigen denkfreien Abschreiben vieler professioneller Multiplikatoren. Sie machen dieselben verzerrenden Fehler, welche die Kartenspieler oder Waschweiber beim Weitertratschen in der guten, alten Vorblogzeit machten. Nur dass sie weniger verdienten als die schreibende Zunft heutzutage, die Falschspieler ausgenommen. Sie schmücken aus, sie lassen weg, sie suggerieren durch Ungenauigkeiten Verschulden und machen verantwortlich, wer sich gerade pässlich anbietet. Jemand muss es sein, Schicksal war früher. Am besten jemand, der schon am Boden liegt und auf den man um so genüsslicher eintreten kann. Warum nicht mal die provokative Frage in den Raum stellen, ob wer versagt hat? Selbstverständlich mit grossem Fragezeichen. Denn der entfesselte Shitstorm dient der Quote. Wenn sich die Story nicht erhärten lässt, kann man sich auf das Fragezeichen stützen. Nur dumm, dass es krumm ist und man dabei abzugleiten droht. Wie schön hätte man sich doch an ein gut recherchiertes Ausrufezeichen lehnen können.

Aber das hätte vorher des Denkens und Mühens bedurft. Ersteres vermögen viele nicht. Oder sind dazu zu faul. Und Letzteres vermöchten sie zwar, aber man will sich doch nicht übertun und dabei wenn möglich noch in ein Burnout geraten. Also lässt man es. Das Bequeme liegt so nah. Das Einfache wird schon die Lösung sein. Und es ist natürlich immer auch alles exakt so, wie es scheint. Ach wie erlöst fühle ich mich. Lasst uns doch gemeinsam befinden. Oder heisst es befindlichen? Wie auch immer, selbst ich konservativer Knochen kann und will mich dem Trend nicht verschliessen und fühle, dass heute Donnerstag Sonntag ist. Ich stehe folglich nicht auf und gehe nicht arbeiten. Ausser dass ich diese Kolumne schreibe und den Verleger bezichtige, mich zur Sonntagsarbeit zu nötigen.


Adrian Ramsauer,
15.1.2015, 114. Jahrgang, Nr. 15.

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