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«Wandzeitung» vom 14.7.2015:

Die jetzige Situation ruft nach Alternativen:

Winterthur unter Beschuss.

Unlängst ist im «Tagesanzeiger» eine Diskussion über die zweitgrösste Stadt im Kanton Zürich entbrannt. Winterthur wird darin von einem Zentralschweizer-Korrespondenten für seinen schmuddeligen Bahnhof gerügt, wegen ihrer zusammengewürfelten Architektur beleidigt, für ihre autofreie Altstadt belächelt und gar als im Niedergang begriffen verschrien. Dass wie hier in Winterthur Büroräumlichkeiten leer stehen, würde es in Zürich und Luzern nie geben, hiess es in einer Mischung aus Zynismus und Mitleid. Einzig der allseits bekannte Hinweis, in Winterthur fehle zudem ein See oder zumindest ein anständiger Fluss, blieb erstaunlicherweise aus.

Ich gebe zu: Auch mein ästhetisches Auge schmerzt beim Anblick des Neuwiesenzentrums oder des braunen Coop-City-Gebäudes direkt am Bahnhof. Als ich kürzlich erfahren habe, dass die Idee rumgeisterte und wieder verworfen wurde, beim ehemaligen Volkshaus (heute Archhöfe) die Eulach freizulegen, wurde ich zudem schon ein wenig wütend. Und ja, weder die Töss noch die Judbrunnen in der Steinberggasse sind ein valabler Ersatz für einen See.

Aber darum geht es einfach nicht. Weder ein grossartiges Stadtbild noch volle Büros tragen dazu bei, dass man sich an einem Ort wohl fühlt. Es sind die Kleinigkeiten des Alltags, die eine Stadt zu einem Zuhause machen und ihr Schönheit verleihen. Es ist die Joggingstrecke vorbei an Rebbergen und Kühen, es ist der Weg ins Büro vorbei an der Quartierbeiz, es ist die spezielle Stimmung spätabends auf dem Nachhauseweg. Es sind die zufälligen Begegnungen auf der Strasse, die geplanten Treffen im Lieblingscafé, der spontane Bummel durch die Altstadt. Es ist der vertraute Ausblick aus dem Küchenfenster auf den Brühlberg, das tägliche Suchen nach einem Veloparkplatz beim Bahnhof und die morgendliche Zeitungslektüre. Es sind die Erinnerungen an Erlebtes, die Besonderheit des Moments und die Spannung auf Neues. Das ist Winterthur für mich. Mich stört weder der zugegeben gewagte Fassadenmix am Bahnhof noch das leerstehende Sulzerhochhaus. Was mich stört, ist die herrschende Politik des Abbaus, bei der sich ein konservatives Gesellschaftsbild mit einer Finanzpolitik paart, die sich lieber um Profite als um die Anliegen der Menschen kümmert. Mit der angekündigten Privatisierungswelle soll die öffentliche Hand dem Markt weichen, wie wenn die Menschen Milchkühe für Partikularinteressen wären. Eine städtische Kultur (im weitesten Sinne) soll zugunsten von Biederkeit und dörflicher Idylle geopfert werden; anstatt Menschen, die ihr Quartier beleben, sollen Autos und Strassen unser Stadtbild prägen. Die Sparzwängerei hängt wie ein schweres Damoklesschwert über der Stadt und versucht Fortschritt und neue Ideen im Keim zu ersticken. Die jetzige Situation ruft nach Alternativen. Das wäre eine Diskussion wert. Und nicht die Bahnhofsarchitektur.

 


Mattea Meyer,
14.7.2015, 114. Jahrgang, Nr. 195.

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