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«Wandzeitung» vom 14.11.2015:

Geschlechterverhältnisse sind nicht einfach gegeben:

Mensch sein.

Kürzlich debattierte der Zürcher Kantonsrat über den Jahresbericht der Universität Zürich. Eigentlich weder aufsehenerregend noch umstritten. Dementsprechend waren viele der Kantonsrätinnen und Kantonsräte in Gespräche oder Zeitungen vertieft – oder gar nicht erst im Ratsaal. Und verpassten (zum Glück?) das Votum des EDU-Vertreters, also jener christlichen Kleinst-Partei, die gemäss Leitbild «Gottes Wort, die Bibel, als Massstab für ihr Reden und Handeln» nehmen. Er sprach sich nicht grundsätzlich gegen universitäre Bildung aus – die ja eigentlich den aufklärerischen Grundwerten verpflichtet ist. Sondern er störte sich wortreich am Lehrstuhl Gender-Studies. Er findet diesen Studiengang, der die Bedeutung von «Geschlecht» und Geschlechternormen auf kultureller, gesellschaftlicher Ebene untersucht, völlig unnötig, jeden Franken dafür eine Verschwendung. Unnötig, wenn die Frauen endlich den von Gott für sie bestimmten Ort finden und akzeptieren (sic!). Der ist nämlich nicht an der Universität (und wohl auch nicht im Ratsaal), sondern daheim bei Kind und Mann. Gehorchen und dienen soll sie, dankbar sein und fürsorglich. Gleichstellung ist Gleichmacherei, eine Missachtung der göttlichen Natur, des Teufels.

Es sind solche Haltungen, die mich zum Erschaudern bringen. Wir alle werden tagtäglich von gesellschaftlichen Erwartungen erdrückt, wie sich «ein richtiger Mann» und «eine richtige Frau» zu verhalten haben. Wollen wir diesen Ansprüchen genügen, müssen wir Individualität opfern. Oder aber damit leben, ausgegrenzt und abgewertet zu werden. Beides schränkt ein und gibt das Gefühl nicht zu genügen. Weder den Menschen, die man mag, noch sich selber.

Geschlechterverhältnisse sind nicht einfach gegeben, sondern werden gemacht. Noch für meine Urgrossmutter war es unmöglich, im Ratsaal zu politisieren. Meine Grossmutter war vom Einverständnis ihres Mannes abhängig, damit sie arbeiten durfte. Und erst zur Zeit, als meine Eltern zusammenkamen, wurde erzwungener Sex in der Ehe als Vergewaltigung strafbar. Wir verdanken fortschrittlichen, emanzipierten Menschen, dass das Frauenstimmrecht heute eine Selbstverständlichkeit ist, Frauen (grundsätzlich) arbeiten können, was und wann sie wollen, und Opfer sexueller Gewalt Unterstützung erhalten. Sie hatten den Mut, gemeinsam aufzustehen, Ungleichheit anzuprangern und Gleichstellung einzufordern.

Dieser Mut ist auch heute noch nötig. Denn Emanzipation geht über rechtliche Gleichstellung hinaus. Es geht darum, eine Gemeinschaft zu schaffen, die alle Lebensformen als gleichwertig akzeptiert und in der sich niemand in normierende Rollenbilder zwängen muss, sondern als das akzeptiert wird, was wir alle sind: Menschen mit Ideen und Träumen.

Selbstredend hat mich zur Erkenntnis, dass ich in einer solchen Gesellschaft leben möchte, nicht die Bibel gebracht, die mir derselbe EDU-Vertreter einst im Ratsaal geschenkt hat, sondern der gesunde Menschenverstand.

 


Mattea Meyer,
14.11.2015, 114. Jahrgang, Nr. 318.

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