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«Wandzeitung» vom 13.9.2015:

Spätere Generationen werden uns am Nichtstun messen:

Der Marsch.

Es gibt Bücher, die spätere Entwicklungen vorwegnehmen und mit zeitlicher Verzögerung durch die Realität in schon fast unheimlicher Weise nachvollzogen werden. Etwa George Orwells «1984», in dem ein totalitärer Überwachungsstaat beschrieben wird. Stasi, Fichenskandal oder NSA lassen dem Roman eine fast schon prophetische Wirkung zukommen. Ähnlich geht es mir, wenn ich an die dramatische Flüchtlingssituation im Mittelmeer und auf dem Landweg denke. Insbesondere bei den Bildern vom überfüllten Budapester Bahnhof und von Menschenströmen, die sich auf der Autobahn zu Fuss Richtung Wien bewegten. Ich erinnere mich, als ich als Teenager das Buch «Der Marsch» las, das auch verfilmt wurde. Es ging dabei um einen Marsch aus einem nordafrikanischen Flüchtlingscamp Richtung Europa in der Hoffnung, dass man die Flüchtlinge nicht ihrem Schicksal, dem Tod überlässt, wenn sie näher kommen und man sie sieht. Willkommen im Westeuropa des Spätsommers 2015.

So lange der Grossteil der Flüchtlinge in Afrika und in Staaten des Nahen Osten lebten, wurde das im Westen mit einer schon fast unheimlich anmutenden Fähigkeit zur Verdrängung ausgeblendet. Trotz modernster, allen zugänglichen Kommunikationstechnologien. Als in den vergangenen Jahren verzweifelte Flüchtlinge den Weg nach Europa auch übers Mittelmeer suchten, stieg die Betroffenheit auch in unseren Breitengraden an. Schliesslich strandeten da Flüchtlinge nicht irgendwo, sondern auf uns bekannten italienischen Inseln. Am grössten war die Betroffenheit, als Schiffe im Mittelmeer kenterten und Hunderte von Flüchtlingen ertranken. Aber auch diese Betroffenheit war nicht nachhaltig. Italien blieb mit seiner Forderung, die Flüchtlinge auf europäische Länder gleichmässiger zu verteilen, praktisch alleine.

Und in der Schweiz lancierte die SVP ihren Wahlkampf auf dem Buckel der «Wirtschaftsflüchtlinge» und mit dem Vorwurf, es herrsche hier ein Asylchaos. Wie Asylchaos aussieht, wissen wir seit den letzten Tagen. Flüchtlinge, die in Griechenland stranden, über Mazedonien und Serbien über den Stacheldraht-Zaun nach Ungarn wollen, in Budapest im Bahnhof Keleti festsitzen, im Lastwagen auf österreichischem Boden ersticken oder in Massen in Wien ankommen. Die Bilder sind dramatisch und rütteln auf. «Der Marsch» ist bei uns angekommen, und wenn man die Flüchtlinge sieht, fällt es schwer, sie ihrem Schicksal zu überlassen. Es fällt auch etwas schwerer, eine Kampagne zu fahren, die die Fluchtgründe von Menschen bagatellisiert und versucht, unser Asylwesen schlecht zu machen.

Wie lange diese Betroffenheit anhält, wissen wir nicht. Trotzdem öffnet sich jetzt ein Zeitfenster der Geschichte, das man durchschreiten muss. Christian Levrat hat den Ausspruch geprägt, «dass wir das Rendez-vous mit der Geschichte nicht verpassen dürfen.» Indem wir etwa Flüchtlinge empfangen wie in München. Und endlich dafür sorgen, dass alle europäischen Staaten einen solidarischen Beitrag leisten und einen Anteil an Flüchtlingen aufnehmen, auch wir in der Schweiz unseren Anteil leisten. Denn spätere Generationen werden uns nicht nur daran messen, was wir tun. Sondern vor allem an dem, was wir in Situationen wie diesen nicht tun.


Nicolas Galladé,
13.9.2015, 114. Jahrgang, Nr. 256.

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Standpunkte:

14.9.2015, 15:17 Uhr.

Pierre-François Bocion schrieb:

Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel hat bei ihrem Besuch in Bern vor zwei Wochen die Schweiz und ihre Asylpolitik ausdrücklich als Vorbild für Europa gelobt. Es ist Wahlkampf und die Linken wissen nichts besseres zu tun als unsere Institutionen herrunter zu reissen – wie die SVP.


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