Logo Wandzeitung
Herausgeber: Guido Blumer & Roger Rutz.
Archiv:   Blog:   Echo:   Home:   Kontakt:   Leitbild:   Partner:   Sponsoren:   Twitter

«Wandzeitung» vom 25.1.2015:

vom männlichen handlungsspielraum:

lust und last.

wenn ich auf reisen – das gibt’s – erhabene kirchenräume besuche, blättere ich, als musiker, gerne in den aufgelegten liederbüchern und versuche mir vorzustellen, wie an diesem ort der gesang klingen mag. bei solchem tun bin ich im «gotteslob», dem deutschen katholischen gesangbuch, auf eine stelle gestossen, die mich unsicher machte, ob ich mich im jahrhundert verirrt habe. da findet sich nämlich ein abschnitt gewissensprüfung, und darin figuriert (auf s. 600) nun wirklich immer noch, verschämt in klammern, im sündenkatalog der tatbestand der selbstbefriedigung.

der männliche mensch ab etwa zwölf jahren produziert in seinem körper samenflüssigkeit, und zwar, wie das in der natur allgemein der brauch ist, im überfluss, und diese muss – da kann sich keiner dagegen sträuben – abgeleitet werden. da ihm dazu lange nicht immer das passende und willfährige weibliche pendant vorliegt, nimmt er eben zur hand, was ihm dank der länge seiner arme erreichbar ist, und verschafft sich dabei überwältigende lust. die kirche nun, statt uns beten zu lehren «liebergott, ich lob dich auch für die freude, die meinem körper bereitet ist», bezeichnet die handlung als sünde und stürzt damit manchen in gewissensnot.

die frage stellt sich, wie die kirche das verbot begründet. ich glaube kaum, es gehe ihr um die besudelte bettwäsche. vermutlich hat sie sich von einer stelle im alten testament (2. mose 38, 8-10) ‚inspirieren‘ lassen. dort war ein enkel des stammvaters jakob, namens eer, gestorben, und ususgemäss wurde die witwe daraufhin seinem bruder zur zweitfrau angetraut. dieser vollzog zwar die ehe, aber er richtete es so ein, dass «der samen jeweils auf die erde fiel», und dafür kurzerhand «liess ihn der herr sterben».

wahrscheinlich meint die kirche, die vergeudung des edlen männlichen samens habe zu diesem göttlichen todesurteil geführt. irrtum. das eigentliche delikt, das dieser schwager begangen hat, bestand darin, dass er seine schwägerin um ihr recht betrog, mutter von nachkommen zu werden, in jener welt der inbegriff des lebenssinns einer frau. ich vermute, er tat so aus purer berechnung, um seine eigenen kinder nicht durch miterben zu benachteiligen. er hiess übrigens onan, und ihm zu ehren – aber unpassenderweise – wird obgenannte handfertigkeit ‚onanieren‘ genannt.

mir war in meiner kirchlichen sozialisation nie das glück zuteil, von dieser onangeschichte zu hören, auch nicht in predigten oder lesungen. es scheint, die kirche mache gern einen bogen um derartige biblische geschichten. wenn es aber darum geht, regeln abzuleiten, die den lüsten der menschen die handbremse anlegen, dann ist sie schnell zur stelle. sogar vorschnell. wäre es nicht besser, unsere lust zu steigern und unser leben köstlich zu machen, so wie es gemeint sein dürfte?

die betrogene witwe, die tamar hiess, ist dann doch noch zu einem kind gekommen, und das ist eine weitere pikante geschichte, die zu erzählen sich die kirchlichen lehrer ebenfalls scheuen und die auch im kapitel 38 zu finden ist.


Alfred Vogel,
25.1.2015, 114. Jahrgang, Nr. 25.

Artikel als PDF downloaden

Zu diesem Artikel wurde noch kein Standpunkt abgegeben.

 

Veröffentlichen Sie als erste Person Ihren

Standpunkt*:

Name:

*Wir freuen uns sehr über Ihre Gedanken zum Text des Tages, bitten Sie jedoch, keine Personen zu verunglimpfen und deren Haltung mit Respekt zu begegnen. Danke schön. Verstösse gegen unser Leitbild werden indes nicht verbreitet.

 

Winterthurs kleinste Zeitung der Schweiz.