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«Wandzeitung» vom 25.6.2015:

die anfänge bleiben im dunkeln:

stimme und sprache.

albert einstein habe bis zu seinem zehnten lebensjahr nicht gesprochen. das habe ihn später befähigt, die relativitätstheorie zu erkennen und zu formulieren. dies sagte arno gruen kürzlich, in der sternstunde vom 7. juni. ich müsste nun zurückfragen, was er meinte mit ‘nicht gesprochen haben‘. bei mir blieb jedenfalls der gedanke haften, einstein habe sich in diesen ersten lebensjahren nicht an die sprache seiner umgebung angepasst und habe eben gerade dadurch die fähigkeit bewahrt, feststehende grenzen des denkens zu überschreiten.

brauchen wir die sprache? auch ich kannte ein kind, das noch mit dreieinhalb jahren nicht redete. die ganze umgebung rief nach abklärung. es hat sich aber mit seinen eigenen sprachlichen und vor allem mit seinen nichtsprachlichen mitteln bestens verständigt, und die besonderheit verlor sich dann von selbst und ohne therapie.

denken, aber averbal … ich erlebe den zustand manchmal, wenn ich allein auf einer längeren wanderung bin, und ich geniesse ihn. ich erinnere mich auch gerne an lange sonntagvormittage, die ich als jugendlicher oft im bett verbrachte, liegend und fantasierend, ziellos und zeitlos.

kann der mensch ohne sprache auskommen? wenn wir die ganze entwicklungsgeschichte der menschen auf zwölf stunden komprimieren, so haben sie erst um elf uhr mit sprechen angefangen. was war in all den zeiten zuvor? war da lauter lachen und weinen und singen? so wie kleinkinder kommunizieren oder wie die vögel unter dem himmel mit ihren verschiedenen lautäusserungen sich einander mitteilen: gefühle, stimmungen, bedürfnisse. war überall nur gesang? denn zum singen ist unser instrument geschaffen, dazu will es gebraucht werden. stimme ist melos. «der singtrieb, ein trieb, zart, und in zeiten des kampfes leicht eingeschüchtert, doch nicht weniger elementar als seine mehr leiblichen geschwister … will bei manchen immer noch gestillt sein, heute, wie ehedem. man muss die legion von gesangbesessenen aus aller herren länder, aus allen ständen und jeder altersklasse an sich vorüberziehen haben sehen» (frederick husler: das vollkommene instrument).

um elf uhr hat die menschliche sprache angefangen, sich der stimme zu bemächtigen. da muss eine grosse umwandlung stattgefunden haben. die sprache hat die stimme für ihre zwecke usurpiert. die kehle wurde dienstbar gemacht für ein verständigungssystem der ratio. kommunikation geschieht von nun an nach festgelegten übereinkünften (konventionen), mittels vokabeln und grammatischen regeln, die jeder mensch sich aneignen muss. sprache ist das werkzeug der ratio.

was soll dieser mein text? die anfänge kann er nicht ausleuchten, aber er kann und will dem wort etwas nehmen von seinem absolutheitsanspruch. ein glück nur, dass in jedem gesprochenen wort auch die stimme mitklingt. c’est le ton qui fait la musique.

 

 


Alfred Vogel,
25.6.2015, 114. Jahrgang, Nr. 176.

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