Logo Wandzeitung
Herausgeber: Guido Blumer & Roger Rutz.
Archiv:   Blog:   Echo:   Home:   Kontakt:   Leitbild:   Partner:   Sponsoren:   Twitter

«Wandzeitung» vom 29.6.2015:

Fremdschämen:

Kopfstand.

Das Wort «fremdschämen» war mir bis vor Kurzem gar nicht bekannt. Sich schämen ist etwas so Ur-Persönliches, wie sollen sich Fremde für mich schämen oder ich mich für sie – aber halt: Wenn es sich nun nicht um Fremde handelt, sondern um den Lebenspartner, die eigenen Kinder, den Hund gar, weil er was tut, wo er nicht soll? Dann schämen wir uns für Dritte, weil die das selber nicht tun (die Kinder), gar keine Scham kennen (der Hund) oder weil wir besorgt sind, mit dem beschämenden Tun oder dem Täter in Verbindung gebracht zu werden – also ohne eigenes Verschulden mit Scham besudelt zu werden – und das von Menschen, mit denen wir untrennbar verbunden sind.

Zur Zeit kommt der sensibler fühlende Teil der Schweiz aus dem Fremdschämen nicht mehr heraus. Es begann mit Sepp Blatter und seiner Fifa, die wieder mal im Herzen unserer Demokratie ihre Bananen-Republik hochleben liess, ohne sich um den Schaden zu kümmern, den ein Rechtsstaat dadurch in den Augen der Weltöffentlichkeit erleidet. Aber für richtiges Fremdschämen reichte das noch nicht, solche Peinlichkeiten hatten wir schon beim Rückzugsgefecht um das Bankgeheimisses mit erleben müssen. Und die Schweiz schämte sich ja auch nicht für die Fifa, sondern für die «Familie», nämlich den Ständerat, der gleichentags das Korruptionsstrafrecht entschärfte, indem er entschied, Privatbestechung nicht zum Offizialdelikt zu machen. Beschämend am Fifa-Skandal ist, dass das Ausland uns auf den Schaden hinweisen muss und peinlich, dass die Steuerfahndung der USA Anklage erheben muss, weil die Schweiz das selber nicht schafft.

Zwei Wochen später sind die Leserbriefseiten und Blogs erneut voll von Fremdschämen: «Das Resultat der Abstimmung im Nationalrat zum neuen Potentatengelder-Gesetz ist beschämend», meint eine Schreiberin, und ein Leser bringt es auf den Punkt: «Ich schäme mich für dieses Land, das demokratisch legitimiert solchen Zynismus zulässt». Nämlich dass sich unserer Volksvertreter zu «Gehilfen von Schwerstverbrechern» machen lassen.

Korruption, Bestechung, Lobbyismus, Doppelmoral, Peinlichkeit, Zynismus – das sind die Wörter, mit denen zur Zeit über die Schweiz geschrieben wird, und das ist Nährboden für Fremdschämen in Reinkultur: Wir alle sind vor den Augen der Weltöffentlichkeit nicht mehr glaubwürdig, wenn skrupelloser Opportunismus das einst bewunderte Image der Schweiz zerstört. Wie für Familienmitglieder schämen wir uns für unsere Politiker, denn irgend jemand muss die ja gewählt haben. Wir sind alle unter Generalverdacht.

Inzwischen ist das Thema Spekulation mit Agrargütern dazugekommen, wo sogar USA und EU zusammenspannen wollen. Und wer hätt's nicht schon vermutet: der Nationalrat will auch da nicht wie die Welt.

Derweilen wird mit dem Schweizerkreuz geworben wie noch nie, wir sol-len stolz sein auf unsere Swissness, Heimatland nochmal. Und ja: So lange man die Schweiz öffentlich als Bananenrepublik bezeichnen darf, wie ich das hier gerade tue, und keinen Schaden fürchten muss, ist das doch irgendwie ein guter Staat, oder? Kein Wunder hat ihn die Fifa für ihren Hauptsitz gewählt. Sie fühlt sich hier zuhause.

 

 


Thomas Oeschger,
29.6.2015, 114. Jahrgang, Nr. 180.

Artikel als PDF downloaden

Standpunkte:

30.6.2015, 10:49 Uhr.

Annemarie Gehring schrieb:

Kopfstand sei Dank! Es ist wohltuend, wenn man während der Lektüre lachen kann über Schweizer Tatsachen, die einen sonst ärgern oder die einem weh tun.


Veröffentlichen Sie Ihren

Standpunkt*:

Verbleibende Zeichen: 777 von 777

Name:

*Wir freuen uns sehr über Ihre Gedanken zum Text des Tages, bitten Sie jedoch, keine Personen zu verunglimpfen und deren Haltung mit Respekt zu begegnen. Danke schön. Verstösse gegen unser Leitbild werden indes nicht verbreitet.

 

Winterthurs kleinste Zeitung der Schweiz.