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«Wandzeitung» vom 3.1.2016:

Paris einmal anders:

Sehnsucht nach alten Zeiten.

Die Massage ist heute gratis, Eierkraulen inbegriffen. Weihnachten: Du willst in die Kirche? In die Notre Dame? Kein Problem, nur Geduld ist gefragt. Kilometerlange Schlangen, Anstehen in der Kälte. 25. Dezember vormittags. Vor der Notre Dame ist alles abgesperrt, der grosse Platz, von dem aus man wunderschöne Fotos schiessen könnte, ist leer. Ringsherum alles abgegittert. Nach einer Stunde komme ich an die Reihe. Abtasten hinten und vorne, Metalldetektoren inklusive, Griff an die Eier, zwischen die Backen: eine Gratismassage. Dann Taschen auf, kühne Griffe des Polizisten in meine Sachen. Alles ok? Dann weiter...

Am 24. Dezember war es noch schlimmer: Ich war in der Saint Eustache, weil es da erfahrungsgemäss mehr Platz hat als in der Notre Dame, wo man bereits am Morgen um sieben anstehen muss, wenn man an der Mitternachtsmesse einen Sitzplatz haben will. Die Durchsuchung ist dieselbe wie bei der Notre Dame, aber als der letzte Platz besetzt war, wurden die Türen abgeschlossen. Vor der Kirche Militär und Polizei, in der Kathedrale ist es wie in einer anderen Welt: Freude und wunderbare Musik. Die Sirenen der Polizei und der Ambulanz sind kaum hörbar, dafür Orchester. Orgel, Chöre, Trompeten. Das Warten auf den Beginn der Messe wird durch Musik nicht nur verkürzt, sondern verzaubert. Obwohl der alte Jean Guillou nicht mehr an der Orgel sitzt, tönt es kräftig von der Orgelempore in den hohen Raum. Dann schlägt die Stunde der Mitternachtsmesse: Die Bischöfe und Priester ziehen ein, festlich gewandet, gemessenen Schrittes, mit Weihrauch umhüllt: ein Fest für Auge, Ohr und Nase. Genau wie früher – eine Oase inmitten der gesicherten Unsicherheit. 2500 Extrapolizisten sind für uns heute im Dienst.

Ich wohne in der Cite internationale des Arts, in deren Nähe ein jüdisches Mahnmal steht: Diese wird Tag und Nacht von vier Militärs bewacht, Maschinenpistole im Anschlag – überall begegnet man schwer bewaffneten Militärs und Polizisten, vor allem an Bahnhöfen und öffentlichen Gebäuden. Bei den Parisern ist der Alltag scheinbar eingekehrt, vergessen sind die schlimmen Terrorakte aber nicht. Die Touristen bleiben aus: Um diese Zeit findet man in Paris sonst kaum ein Hotelzimmer, jetzt aber sind die Hotels zu knapp 40 Prozent ausgelastet. Die Taxifahrer klagen; keine Kunden. In den Restaurants und Cafes merkt man kaum etwas: Im Cafe de Flores, dem Philosophencafe am Boulevard Saint Germain ist die Stimmung ausgelassen und fröhlich. die Kellner machen ihre Witze wie früher, sind trotz Stress gut drauf. Kaum bist du draussen, weht dir der Wind der Panik wieder entgegen: Polizisten, Militär, Waffen überall. Strassenmusik: keine. Bettler: viele. «La peur n´a jamais evite le danger», stimmt natürlich auch heute noch. Aber ich traure den alten Zeiten nach, wo man locker der Seine entlang flanieren konnte, unbehelligt von Angst und Terror.

Warum am heiligen Abend übrigens ausgerechnet Moslems Kathedralen bewacht haben, war niemandem klar. Ein Bürgermeister hat – leider öffentlich – gesagt, man stelle schliesslich auch keine Pyromanen als Feuerwehrleute an ... Sic transit gloria mundi.


André Bernhard,
3.1.2016, 115. Jahrgang, Nr. 3.

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