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«Wandzeitung» vom 19.1.2016:

Liebesbrief:

Serge.

Nein, ich habe dich nie vergessen, aber lange, sehr lange nicht mehr an dich gedacht. Du warst ein paar Monate lang mein Nachbar – deine Gitanes ohne Filter sind mir in starker Erinnerung – meine Kleider rochen und stanken nach deinen Zigaretten. Serge, deine Ausstrahlung, deine Art zu reden, zu provozieren, zu veräppeln, zu singen, zu tanzen sind unvergesslich. Eigentlich wolltest du ein ernsthafter Chansonnier werden, aber das gelang dir mit deinem Esprit und deiner Lebenseinstellung nicht. Als ich dich kennenlernte, warst du 37 und ich war ein unerfahrenes Greenhorn und – auch deswegen – von dir stark beeindruckt und eingenommen. Unerhört und unglaublich war für mich und meine damaligen Kollegen, wie du stets die attraktivsten Frauen für dich gekapert und verführt hast, die schönsten Mädchen nach Vernissagen abgeschleppt hast, obwohl du oft betrunken oder verladen warst. Offiziell warst du damals eigentlich verheiratet, was aber nicht so zum Tragen kam – deine damalige Ehefrau habe ich nie gesehen, deine zukünftige hingegen schon. Die Frauen, die in deinem Atelier an der rue de l´Hotel de Ville anzutreffen waren, gehörten zu den schönen und interessanten: Brigitte Bardot, Jane Birkin (die du dann geheiratet hast), die Tochter von Amadeo Modigliani und weitere tolle Erscheinungen der Pariser Welt waren da versammelt.

Also: Schön warst du nicht, charmant – im heutigen Sinne wohl auch nicht. Aber das war auch nicht wichtig: Deine Texte, deine Chansons, waren beeindruckend, obwohl es auch einige Flops darunter gab, zum Beispiel «Décadanse» kam nicht an, hingegen Chansons, die eigentlich Pop-Songs waren, die haben Erfolg gehabt. Deine politischen Einstellungen waren klar, aber gegen alles gerichtet, was der Bourgoisie lieb und teuer war. In deinen Songs warst du gegen Fleiss, Ordnung, sogar gegen die Liebe.

Skandale machten dich bekannt und berüchtigt: Wie du es gewagt hast, die «Marseillaise» zu verhunzen, wie du öffentlich Geld verbrannt hast, das hat dem Etablissement nicht gefallen. Mit deinen Liedern warst du deiner Zeit voraus: «Histoire de Melody Nelson» oder «Bonnie and Clyde»: Das war Hip-Hop bevor es ihn gab. Ironie und Gift, das waren wichtige Zutaten in deinen Songs. Dass du für vierzig Filme die Musik komponiert und Drehbücher verfasst hast, wissen die wenigsten. Du gabst dich immer provokativ und hast das Bild des genialen Künstlers verkörpert wie kaum ein anderer.

Hemmungen hattest du nie. Unvergessen auch die Live-Sendung mit Whitney Houston, als du vor laufender Kamera gesagt hast, du möchtest mit ihr vögeln. Deine Kritik am Kolonialismus (Schlingensief hätte sie nicht besser inszeniert) war einigen Politikern dann doch zu viel. Das ging dir aber, wie vieles anderes auch, am Arsch vorbei.

Warum du mir jetzt wieder präsent bist: Im Chor des Cercle Romand Winterthur singen wir gerade ein Lied von dir: «Le Poinçonneur des Lilas», aus der Zeit, als die Metrobillete noch geknipst wurden – ein Chanson, das unter die Haut geht. – Seit einem Vierteljahrhundert bist du tot. Deine Werke leben weiter. Danke, Serge.

Serge Gainsbourg, eigentlich Lucien Ginsburg 1928–1991.

 


André Bernhard,
19.1.2016, 115. Jahrgang, Nr. 19.

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