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«Wandzeitung» vom 8.12.2016:

Selbstreflexion:

Ich bin manchmal ein Arschloch.

Ich war als Kind oft gemein zu anderen Kindern. Ich weiss nicht, warum, aber es steckte wohl eine sadistische Lust dahinter. Heute bin ich eher freundlich zu den Menschen und manchmal sogar hilfsbereit und solidarisch. Doch es kommt vor, dass ich mich auch als Erwachsene in Situationen wieder finde, in denen die Bösartigkeit meiner Kindheit aus mir herausbricht.

Ich war in Frankreich nahe der spanischen Grenze und arbeitete auf einer kleinen Biofarm. Es gab Esel, Geissen, Schafe, Hühner, einen weitläufigen Gemüsegarten sowie zahlreiche Nuss- und Obstbäume. Es ist für den modernen Menschen ja eine ganz besondere Erfahrung, wenn die Lust, etwas zu naschen, plötzlich von einem Baum ausgelöst wird statt von einer verlockend designten Verpackung. Zum Feigenbaum pflegte ich ein besonders lustvolles Verhältnis – sogar, als ich herausfand, dass ich mit jeder Feige die leiblichen Überreste einer Wespe mitass. Die Feigenfrucht gedeiht nämlich nur dann, wenn eine Wespe sich in die weibliche Blüte begibt und sie bestäubt. Sie macht das, weil sie nach einem Platz sucht, um ihre Eier zu legen. Doch nur die männlichen Feigenblüten bieten genug Platz für dieses Unterfangen, die weiblichen sind zu eng. Gerät die Wespe, welche die beiden offenbar nicht unterscheiden kann, in eine weibliche Blüte, fallen ihr die Flügel ab und sie stirbt. Nur dank ihrem tödlichen Irrtum kann die Feigenfrucht gedeihen. Da hat sich die Evolution mit der Wespe einen besonders fiesen Scherz erlaubt. Die Natur ist eben auch böse.

Es ist ein Tabu. Das Böse. Die eigene Gehässigkeit, Intoleranz und Selbstgefälligkeit. Mit mir auf dem Hof arbeitete die junge Engländerin Sophie. Ein süsses Mädchen mit rotem Lockenkopf und breitem, sympathischen Lächeln. Ich mochte sie auf Anhieb. Doch nach ein paar Tagen zeigten sich Züge ihres Wesens, die meinen Unmut provozierten. Sophie war unpünktlich, ahnungslos, vergesslich, langsam und ein wenig naiv. Selbstverständlich hatte sie daneben auch noch positive Eigenschaften, doch ich schaffte es nicht mehr, diese anzuerkennen und steigerte mich stattdessen in eine Feindseligkeit, die ich Sophie spüren liess. Nicht stark genug, damit sie sich hätte beschweren können. Aber doch so, dass sie es, wenn auch unbewusst, merken musste. Ein Psychospiel, für das ich mich sehr schäme. Zwar gelang es mir ab und zu, Sophie mit Wohlwollen zu begegnen, aber diese Episoden waren jeweils von kurzer Dauer. Es tut mir leid, liebe Sophie. Aber noch mehr tut es mir leid für mich, denn ein Arschloch zu sein ist fast noch schlimmer, als mit einem zusammen zu sein. Sind Sie auch manchmal eines? Und wenn Sie es sind, merken Sie es dann? Kämpfen Sie dagegen an oder lassen Sie dem schändlichen Trieb freien Lauf? Halten Sie es für natürlich?

 

 


Anita Blumer,
8.12.2016, 115. Jahrgang, Nr. 343.

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Standpunkte:

12.12.2016, 08:53 Uhr.

Rosmarie Schoop schrieb:

Ja, manchmal! Auf jeden Fall ist es natürlich, solange man nicht bösartig wird ... und auch lustig, wenn man sich gleichzeitig von aussen betrachtet und merkt, wie man sich aufführt – genauso wie die Leute, über die man sich manchmal aufregt.


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