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«Wandzeitung» vom 14.1.2016:

Wie mein eigenes Kind:

«Ich liebe Sie Frau M.!»

Seit einigen Monaten betreue ich stunden- oder tageweise Frau M., über 95, dement und vollständig auf Pflege angewiesen, im Auftrag eines Hausbetreuungsdienstes. Im Vorfeld hörte ich, dass schon etliche Mitarbeitenden von Frau M. zum Teufel gejagt wurden, oder selbst an ihre Grenzen stiessen – sie ist zwar pflegebedürftig, aber nicht stumm. Dank stimmungsstabilisierenden Medikamenten jedoch friedlicher gestimmt als scheint’s zuvor. Jedenfalls liess ich mich darauf ein, ganz Profi, trotz Gehörtem, ihr vorurteils- und angstfrei zu begegnen. Schon bei der Einführung wurde klar, dass sie mich akzeptieren wird, da ich ihrem Erscheinungsbild einer für sie annehmbaren Frau entsprach. Sie beobachtete mich genau aus dem Seitenwinkel, schmunzelte keck, wenn unsere Blicke sich begegneten oder verdrehte verschwesternd die Augen, wenn der Mitarbeiter etwas sagte. Ihr zierlicher Körper, die feinen Glieder – kaum mehr als Haut und Knochen – stehen im eindrücklichen Gegensatz zu ihrer strengen, kräftigen Stimme, ihrem starken Willen und der unerschütterlichen Selbstbestimmung. Eine lebenserfahrene Frau, die so viel von der Welt gesehen hat, ein Faible für Kunst, Musik und Literatur hatte, sich ein Leben lang behauptete, ist nun so schwach, dass sie den ganzen Tag nur schlafen möchte, kaum mehr spricht, weder auf Musik reagiert noch auf vorgelesene Texte aus einem ihrer unzähligen Bücher. Wenn ich sie anlache, lacht sie so zauberhaft zahnlos zurück, dass ich sie fressen könnte vor Glück. Ist sie unzufrieden oder überfordert mit einer Situation, beleidigt sie so überrumpelnd oder schlägt und boxt, wohin sie eben treffen kann, dass ich schon sprachlos schluckte. Ihr körperliches Fliegengewicht vermag nicht zu verletzen, ihr Repertoir an Gefühlsausdrücken: «Sie Chue, Sau, ab in Chübel mit Dir, Sauhund, ...» auch nicht wirklich. Zumal überkommen mich Gefühle der Liebe, wenn ich sie so sehe, so abhängig, so alt, klein und schwach, so bockig und lieblich, so menschlich. Ich freue mich, wenn sie isst und trinkt, gut riecht, Kinder anlacht, von sich aus etwas sagt, mich ansieht, aber auch wenn sie im Bett liegt, sich auf die Seite dreht und mir nur selten und bei äusserst guter Laune ein: «Guet Nacht» schenkt. Ich freue mich, wenn sie stuhlt und aufs WC uriniert, Initiative zeigt, sich am Esstisch die aufgedeckten Lebensmittel selbst einzuverleiben und das Mundwasser ausspuckt, statt zu schlucken. Sie sieht wundebar aus, weisshaarig und fast zahnlos wie sie ist, die Brüste bis unter den Hosenbund hängend, die eine Hand vom Nicht-mehr-benutzen verkrümmt. Wenn ich sie morgens beim Wecken anlache, sagt sie: «Schöni Zäh» und auf meinen Morgengruss sagt sie trocken: «Hoi». Neulich schoss ich ein Foto von uns zwei, als sie sich auf dem Bildschirm sah, beurteilte sie sich mit: «Ich luege todernscht», ich antwortete: «Dänn lached Sie doch» und das tat sie dann auch. Einmal wollte sie mir ein Medi anspucken und traf genau ins Wasserglas, welches ich hielt, worauf wir beide herzhaft lachten. Als ich ihr vorschlug die Beine etwas zu vertreten, meinte sie: «Ja scheiss die Wand an.» – «Ich liebe Sie Frau M.» – «Wieso denn das?»


Lilian Setenou,
14.1.2016, 115. Jahrgang, Nr. 14.

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