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«Wandzeitung» vom 16.2.2016:

Ausgeschafft:

Das Asylwesen funktioniert perfekt.

Die Polizisten kamen morgens um fünf Uhr, stürmten die Wohnräume des Asylzentrums im Kanton Solothurn, und machten einen grossen Lärm: Aufstehen, anziehen! Die Kinder weinten, die Frau war verstört. Der Vater bat die Polizisten darum, ihm keine Handschellen anzulegen und bedeutete ihnen, dass er kooperieren werde. Dann wurde die vierköpfige Familie (die Eltern sind etwa 30 Jahre alt, die Kinder 3 und 5) nach Polen ausgeflogen, wo sie die erste Nacht in einem Bunker unweit von Warschau untergebracht worden sind. Sollte ihr Asylgesuch anerkannt werden, erhalten sie in Polen eine Einzimmerwohnung und 300 Euro Unterhaltsgeld pro Monat. Wenn Polen das Asylgesuch nicht anerkennt, müssen sie zurück nach Aserbeidschan, wo der Vater wegen seines politischen und publizistischen Engagements polizeilich gesucht wird. Freie Meinungsäusserung ist in Aserbeidschan nicht möglich. Wer sich als Gegner der Regierung exponiert, muss mit Retorsionsmassnahmen und Willkür rechnen.

Die vierköpfige Familie hat Aserbeidschan im letzten Sommer verlassen. Sie wollte direkt in die Schweiz reisen, weil hier Verwandte leben (die vor 12 Jahren ebenfalls als politische Flüchtlinge hierher gekommen und mittlerweile integriert sind). Die Anwesenheit von zahlreichen Familienmitgliedern in Winterthur und Bern, hofften sie, würde ihnen bei der Integration helfen. Bei den Verwandten hat es damals gut geklappt, sie erhielten in der Schweiz auf Anhieb Asyl und wurden rasch selbständig. Doch das war, bevor die Abkommen von Schengen und Dublin in Kraft traten. Diese Abkommen wurden der jungen Familie, die ihr Heimatland im Sommer 2015 verlassen hat, zum Verhängnis.

Weil die Familie kein Visum für die Schweiz bekam, versuchten sie über Polen in den Schengen-Raum zu gelangen, von wo aus die ungehinderte Weiterreise in die Schweiz möglich war. Doch wer in einem Mitgliedstaat des Schengen-Dublin-Abkommens seine Fingerabdrücke hinterlässt und registriert wird, kann in keinem anderen Staat dieses Verbunds mehr ein Asylgesuch stellen. Wer es dennoch macht, wird in den Erstaufnahmestaat zurückgeschafft. Insgesamt funktioniert das System mangelhaft – manche Länder achten etwa darauf, möglichst wenig Asylsuchende zu registrieren und animieren diese stattdessen zur Weiterreise. Andere weigern sich, die Leute zurückzunehmen, für die sie zuständig sind. Die Schweiz gehört zu jenen Staaten, die das Dublin-Verfahren knallhart durchziehen.

Die Familie hat dennoch auf Asyl in der Schweiz gehofft. Gegen den Wegweisungsentscheid haben sie rekurriert, mit der Begründung, dass die Verwandten in der Schweiz ihnen helfen könnten. Auch befürchtete die Familie, dass Polen sie wegen anderer Asylkriterien nach Aserbeidschan zurückschaffen könnte. Das Bundesverwaltungsgericht hat rasch entschieden: Nein – ein klarer Dublin-Fall. Auch eine Bitte an die Behörde, von sich aus auf den Fall einzutreten, wurde negativ beantwortet. Fazit: Das schweizerische Asylwesen funktioniert gut und effizient. Die von der Ausschaffung traumatisierten Kinder und die Eltern, deren monatelang andauernder Alptraum eines Nachts wahr geworden ist, sehen das anders.

 

 


Claudia Blumer,
16.2.2016, 115. Jahrgang, Nr. 47.

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Standpunkte:

5.4.2016, 14:51 Uhr.

Eugen von Arb schrieb:

Gerade ist mir das himmeltraurige Ende des weltberühmten jüdischen Tenors Joseph Schmidt (Ein Lied geht um die Welt) in den Sinn gekommen. 1933 wurde er von den Nazis verboten und verfolgt. 1942 floh er zu Fuss über die Grenze in die Schweiz und wurde dort als «illegaler Flüchtling» im Lager Girenbad interniert, wo er erkrankte und mangels Hilfeleistung starb. Wir sprechen über diese unmenschlichen Geschehnisse immer in der Vergangenheit, dabei passieren sie heute, jetzt, in diesem Augenblick ...


23.2.2016, 19:21 Uhr.

Daniel schrieb:

Das grosse Schämen.


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