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«Wandzeitung» vom 29.2.2016:

schrullen:

offene schlünde.

beim gähnen wird die hand vor den mund gehalten. das ist allgemeine übereinkunft. das hat auch seine gründe. und genau so ist nach benützung des closets der deckel zu schließen. das hingegen ist leider nicht allgemeine übereinkunft.

wenn ich bei andern zu gast bin, so bemühe ich mich, den gepflogenheiten des hauses mich anzupassen. ich ziehe mir, wenn auch widerwillig, die filzschlappen über, wenn es in diesem haus so der brauch ist. ich lasse den nassen schirm vor der türe im dafür vorgesehenen kübel. und eben: ich passe mich den usanzen an, was den closetdeckel betrifft.

das letztere macht unseren gästen am meisten mühe. wir wissen jedesmal, sobald sie gegangen sind: jetzt gilt wieder unsere hausregel, wir sind wieder unter uns und daheim.

ich vermute darin ein alterszeichen, dass ich mit solchen regelverstößen zunehmend meine schwierigkeiten habe. je älter ich werde, desto mehr verläuft das leben in geregelten bahnen. die alltäglichen besorgungen haben ihre feste routine. das erspart mir viele entscheidungen. so ist am morgen die reihenfolge festgelegt: kafi – lampott – zmorge. darin will ich mich nur ungern stören lassen. dann kommen im lauf des vormittags die täglichen einkäufe und der gang zum postfach. immer die gleichen schritte. wenn ich etwa den kirchplatz überquere, wähle ich den weg so, dass ich ein stück weit über ungepflästerten boden gehen kann. das tut meinen füßen besser.

schau, da ist schon wieder ein laden zugegangen und ein kleidergeschäft eingezogen. gestörte gewohnheiten. kleider brauche ich keine neuen, die alten haben sich an mich gewöhnt.

bei aller routine bleiben immer noch genügend fragen, die der entscheidung harren. ja, es ist ein alterszeichen, wenn wir schrullig werden, uns in den vertrauten abläufen nicht gerne stören lassen. früher kam einer an die tür, klar nimmst du ein bier. heute braucht es komplizierte absprachen mit hilfe der agenda, um ein treffen zu vereinbaren.

also gut, unser deckel hat geschlossen zu sein, wenn ich ins badezimmer trete. für diese regel gibt es durchaus achtbare gründe. erstens ist der schlund, auch wenn er sauber dreinblickt, ein unschöner anblick, und ist nur schon die vorstellung seines gelegentlich unsauberen zustandes nicht erhebend. es ist wie beim gähnen: die mundhöhle mit dem kauwerk ist ein unwillkommener blickfang. kommt zweitens hinzu: wenn mir ein buch versehentlich aus der hand rutscht, dann nehme ich es lieber vom deckel auf als aus dem kühlen nass. und wenn es sich gar um die zahnbürste handelt, erst recht.

die hand vor dem offenen mund soll, das weiß jeder, die wahllose ausbreitung von tröpfchen verhindern. und so geben wir die viren lieber von hand weiter.


Alfred Vogel,
29.2.2016, 115. Jahrgang, Nr. 60.

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