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«Wandzeitung» vom 12.4.2016:

Schlusspunkt:

Irgendwann geht es auf einer anderen Ebene weiter.

Mein Vater ist vor einigen Monaten gestorben und ich möchte mich zeitlebens an alles erinnern. An seine Stimme, seine üblichen Kommentare, möchte weiterhin «hören», was er in einer bestimmten Situation sagt.

Ich bereue einiges und habe Schuldgefühle. Plötzlich taucht ein Bild nach dem anderen auf, jedes Mal zeige ich mit erhobenem Zeigefinger auf mich. Ich sehe meinen Vater in der Marktgasse, er spaziert mit Kollegen Richtung Bahnhof. Es ist Freitag und sie hatten sich um 15 Uhr im «Schäfli» am Stammtisch getroffen. Es regnet ein bisschen und ich bin mit jemandem unterwegs. Ich müsste rennen, um meinen Vater einzuholen und ihn zu begrüssen. Ich mache es nicht und denke mir noch, dass er irgendwie zerbrechlich aussieht von hinten. Oder ich bin im Bus, vor einigen Monaten von meinem Kolumbien-Aufenthalt zurückgekehrt, und wohne bei meinem Vater. Klar hat er dort das Sagen, lässt zum Beispiel zwecks Wärmehaushalt die Storen Richtung Garten im Winter zu, wenn der Tag grau und kühl ist. Obwohl er weiss, dass mich dunkle Stuben deprimieren. Oder hört er mir nicht zu, nimmt mich nicht ernst? Das Zusammenleben ist wohl für beide nicht immer einfach. Wie gesagt, ich bin im Bus und plötzlich sehe ich ihn. Ich freute mich schon aufs Alleine-Sein im Haus. Er sieht mich nicht, ich reagiere nicht. In der Station Hohlandweg steigt er aus und spaziert zum Bahnhof Oberwinterthur, wo er den Zug nach Hause nimmt. Dann kommt ein anderes Bild von vor vielen Jahren. Es ist Sommer und ich treffe eine ehemalige Arbeitskollegin, die ich schon Jahre nicht mehr gesehen habe. Wir essen einen Salatteller im Hof eines Restaurants, es hat wenig Leute. Plötzlich kommt mein Vater oder war er schon da? Ich begrüsse ihn, stelle ihn meiner Begleiterin vor, aber ich bitte ihn nicht, sich zu uns zu setzen.

Ich bin ein Einzelkind und mein Vater hatte nach dem Tod meiner Mutter vor fast 20 Jahren keine Partnerin mehr. Dieser Part fiel mir dann ein bisschen zu, so empfand ich es und musste mich darum wohl manchmal etwas abgrenzen. Ausreden?

Mein Vater war immer sehr wichtig in meinem Leben. Ich zitierte ihn oft, mache es heute noch. Bei einer Familienaufstellung habe ich einmal einen mächtigen Elefanten ausgewählt, der für ihn stand. Aber meine Arme um ihn legen und sagen, dass ich ihn liebe – oh nein, das ging nicht. Das spürte ich auch nie so klar. Als er starb, lüftete sich ein Schleier und ich empfand tiefe Liebe und Dankbarkeit. Seither sage ich ihm immer wieder, laut oder nur im Kopf, wie sehr ich ihn liebe. Bereuen, Schuldgefühle et cetera gehören wohl zur condition humaine. Mein Vater selber zeigt mir dies auf. In seinen letzten Jahren sprach er immer wieder über sein Leben und stellte sich auch mal in Frage. Dass er während seines beruflichen Einsatzes auf San Andrés Klartext hätte reden müssen, sich gegen die Korruption hätte auflehnen müssen, er hätte die Chance dazu gehabt. Oder dass er seine Mutter wohl schon viel früher hätte besuchen müssen im Heim, nicht erst mit anfangs 40 und das auch nur, weil meine Mutter ihn dazu motiviert hatte. Schuld und Bedauern – diese Gefühle müssen wir wohl aushalten und akzeptieren.


Rosmarie Schoop,
12.4.2016, 115. Jahrgang, Nr. 103.

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