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«Wandzeitung» vom 22.5.2016:

Der Bünzli in mir:

Wenn dich deine Eltern spiessig finden.

Seit Jahren bezeichnet mich meine Mutter immer einmal wieder lachend als bünzlig oder gar als Füdlibürger. Zum Beispiel vor vier Jahren, als ich mit meinem Freund zusammengezogen bin und wir uns eine Wohnwand aus der Brocki ins Wohnzimmer stellten. Oder auch letztens, als ich erzählte, dass sich in meinem Umfeld viele Paare wieder ganz traditionell verloben (mit einem Kniefall des männlichen sowie strahlendem Nicken und Tränchen seitens des weiblichen Parts), dann heiraten und erst später Kinder kriegen wollen, also dass der «Schaffe, schaffe, Häusle baue»-Leitspruch in meiner Generation wieder ziemlich in ist und ich das eigentlich gar nicht so schlimm finde – auch wenn ich auf das Verlobungsgetue und den überteuerten Ring gern verzichten kann.

Zugegeben, ein bisschen Bünzli bin ich schon. Ich schaue nur böse, sage aber nichts, wenn sich jemand vordrängelt; ich biete meinen Gästen Filzpantoffeln an, weil ich nicht möchte, dass sie mit den Schuhen durch meine Wohnung gehen, immerhin habe ich vorher jeweils noch kurz durchgesaugt; auf meinem Esstisch ist das Aromat nicht wegzudenken und meine Salatsaucen verfeinere ich mit Maggi; wenn die S12 drei Minuten zu spät kommt, blicke ich manchmal genervt auf die Uhr und fühle ein bisschen Befriedigung, wenn die SBB-Durchsage eine Entschuldigung für die Verspätung enthält – Pünktlichkeit ist schliesslich wichtig. Alles klare Bünzli-Symptome.

Und ich bin damit nicht allein. Verschiedene Medien titeln seit Jahren eine Trendwende unter den Millennials, der Generation Y, die um das Jahr 2000 herum zu den Teenagern zählten. Bünzli zu sein ist wieder im Trend, Spiessigkeit verfliesst mit Hipstertum zu einer individualisierten Masse von Vintage-Füdlibürgern.

Laut Wikipedia ist ein Bünzli «eine abwertende Bezeichnung für eine geistig unbewegliche, kleinkariert denkende und ausgeprägt gesellschaftskonforme Person». Darauf basierend müsste ich mich beleidigt fühlen, wenn mich meine Mutter so bezeichnet. Ich bin zu dem geworden, wogegen sie sich vor dreissig Jahren mit Vehemenz aufgelehnt hatte, zu einer Spiesserin, die sich nicht gegen das Establishment und alte Traditionen auflehnt, sondern das Sinnbild davon – eine Wohnwand! – in ihr Zuhause holt.

Vermutlich überspringt das Bünzlitum jeweils eine Generation und erst meine Enkel werden wieder spiessig, während sich meine Kinder wohl eher mit den Idealen meiner Eltern werden identifizieren können. Und ich finde das gut. Ich möchte meinen Kindern einmal ein möglichst langweiliges Zuhause bieten, eine immer wiederkehrende Routine, in der sie sich geborgen fühlen und die ihnen irgendwann so langweilig wird, dass sie daraus ausbrechen und selbstständig werden wollen. Wenn meine Mutter das liest, wird sie sich wohl fragen, wie gerade ihre Erziehung solche Ansichten hervorbringen konnte, aber wissen Sie was? Gerade heute empfing sie in der Wohnung unter uns Gäste und mir sind die Filzpantoffeln an den Besucherfüssen aufgefallen. Äxgüsi, Mutterherz, aber ein bisschen Bünzli steckt wohl in jedem von uns – und das meine ich jetzt nicht beleidigend, ganz im Gegenteil.


Anita Hofer,
22.5.2016, 115. Jahrgang, Nr. 143.

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Standpunkte:

23.5.2016, 11:37 Uhr.

Marlies Bänziger schrieb:

Mutterherz geniesst und dankt.


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