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«Wandzeitung» vom 14.1.2017:

Glaubensfreiheit versus Integration:

Das Recht auf Bildung ist entscheidend.

Burkas verbieten? Kopftücher im Klassenzimmer erlauben? Eine ähnliche Frage wurde kürzlich vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden. Der Schwimmunterricht ist auch für muslimische Mädchen obligatorisch. Geklagt hatten die schweizerisch-türkischen Eltern, weil das Fernbleiben ihrer Mädchen 2010 vom Basler Erziehungsdepartement mit 1400 Franken gebüsst worden war. Alle schweizerischen Gerichtsinstanzen hatten dies gutgeheissen. Auch der Gerichtshof in Strassburg sieht es so: Die Teilnahme der Schüler am obligatorischen Unterricht hat Vorrang vor der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die Integration aller Schüler, unabhängig von Herkunft und Religion, dient der Chancengleichheit und ebnet den Weg ins Berufsleben und in die Gesellschaft. Die Teilnahme am Schwimmunerricht gehört dazu, zumal er vor der Pubertät nur nach strenger Auslegung des Korans verboten ist (die betroffenen Mädchen waren 7 und 9) und ihnen das Tragen eines Ganzkörper-Badeanzugs erlaubt worden wäre. Vor zweieinhalb Jahren hatte der EGMR auch das in Frankreich geltende Burkaverbot gestützt, gegen das eine Frau geklagt hatte. Zwar anerkannte der Gerichtshof eine Benachteiligung der betroffenen Frauen, bewertete aber das Ziel des französischen Staats höher, das «gesellschaftliche Zusammenleben» zu erhalten. Dieser Begriff sei flexibel auszulegen, also für einen laizistischen Staat anders als für einen religiösen. Und es sei dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Gesichtsschleier im öffentlichen Raum eine Abgrenzung gegenüber anderen Personen bedeute. Die Möglichkeit des gegenseitigen Kontakts sei ein unverzichtbares Element des gesellschaftlichen Lebens.

Anders sieht es – zumindest in der Schweiz – beim Kopftuch aus. Hier haben zwei muslimische Mädchen und ihre Familien 2015 vorn Bundesgericht Recht bekommen, als die Schule St. Margrethen SG ihnen verbieten wollte, während des Unterrichts ein Kopftuch zu tragen. Religiöse Symbole oder Kleidung müssen in der Schule möglich sein, sie beeinträchtigen die Integration gemäss Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit geht in diesem Fall den staatlichen Regeln beziehungsweise der Schulverordnung vor.

Zusammenfassend kann man das so lesen: Beim Abwägen zwischen Religionsfreiheit und Integrationspflicht ist die Grenze dort zu ziehen, wo die Schüler ihres Rechts auf Bildung beraubt und damit in ihrer Chancengleichheit beeinträchtigt würden. Die eigenen Regeln durchsetzen zu wollen, genügt nicht für ein Verbot oder ein Obligatorium. Das macht auch Sinn: Eingriffe des Staates müssen notwendig und verhältnismässig und nie nur Selbstzweck sein. Einmal mehr kann man im Übrigen froh sein, dass die Schweiz die europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ratifiziert hat. Das international massgebende Gericht hat eine hohe Glaubwürdigkeit stärkt ganz Europa bei der gemeinsamen Definition von Religionsfreiheit und Integration. Auch die SVP, die eine Volksinitiative zur Kündigung der EMRK-Mitgliedschaft lanciert hat, wird sich über den Entscheid zum Schwimmunterricht freuen. So wie sie sich gefreut hat, als der Gerichtshof in Strassburg die Leugnung des Armeniergenozids erlaubt hat. Aber sie wird nicht viel dazu sagen.


Claudia Blumer,
14.1.2017, 116. Jahrgang, Nr. 14.

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