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«Wandzeitung» vom 11.6.2017:

Ratten verlassen das sinkende Schiff:

Rebellion von oben.

Dass Menschen sich kaum für politische Parteien interessieren, ist Realität. Die Erosion politischer Bindungen spiegelt sich in Parteiverdrossenheit und Versuchen, Politik ausserhalb gängiger Strukturen in neue Formen zu giessen. Obwohl es vielen dieser neuen Formationen an inhaltlich fundierter Stabilität und Langlebigkeit fehlt, gerät die klassische Parteiendemokratie zunehmend in die Defensive. In vielen Staaten der westlichen Welt haben die Parteien der Nachkriegszeit, wenn sie noch existieren, grosse Mühe, ihre Machtpositionen zu behaupten.

Tatsächlich ist der teilweise, zumeist aber nur kurzfristige Erfolg von Protestparteien unterschiedlicher Machart eher die Folge des Niedergangs der alten Parteienkultur als dessen Ursache. Wie weit die Selbstzerstörung der alten politischen Ordnung fortgeschritten ist, kann man am erleichterten Jubel der europäischen Regierungen über die Wahl des ehemaligen PS-Mitgliedes Macron zum neuen französischen Staatspräsidenten ablesen – oder genauer: am Jubel über die Nichtwahl von Le Pen. Ein weiterer Polit-Newcomer ist der österreichische Aussenminister Kurz, für den seine ÖVP nur Balast darstellt – überflüssig für seine angestrebte One-Man-Show. Sie beide sind rebellische Kinder der Ära Parteiverdrossenheit. Beide in ihr politisch sozialisiert mit entsprechend niedriger Hemmschwelle, parteidemokratische Traditionen über Bord zu werfen. Das bringt zweifelsfrei neuen Wind in die Politstuben auf dem Kontinent. Fraglich ist indes, ob dieser Wind auch ein frischer ist.

Denn die von ihnen angestossene Rebellion ist eine von oben, mit dem neue und ambitionierte Sektionen der alten Elite die Flucht nach vorn antreten. Die Leichtigkeit, mit der diese Nachwuchshoffnungen des Establishments alte Instanzen demokratischer Meinungs- und Regierungsbildung auf den Müllhaufen der Geschichte befördern und durch nichts ersetzen ausser ihrer eigenen persönlichen Authentizität, offenbart die erschreckende Substanzlosigkeit von Politik und die inhaltliche Entleerung zentraler politischer Begriffe, wie etwa der «Bewegung». Dass Bewegungen heute fast ausschliesslich aus den Schaltzentralen der Macht heraus inszeniert und angeführt werden, macht deutlich, wie sehr es der politischen Landschaft in Europa an wirklicher demokratischer Belebung fehlt.

Die Rebellionen dieser neuen Politstars sind letztlich zynische Versuche, im Windschatten der öffentlichen Parteiverdrossenheit ihre eigenen Machtstrukturen von demokratischer Verantwortung und Rechenschaftspflicht abzukoppeln. Weitere solcher Rebellionsversuche werden folgen. Daher ist Skepsis angesagt, wenn Politiker, die in traditionellen Zusammenhängen mächtig wurden, plötzlich ihre Liebe zur Rebellion entdecken und kurzerhand ihre eigenen Läden aufmachen.

Diese Initiativen mögen zwar nach «neuen sozialen Bewegungen» klingen. Doch in Wirklichkeit sind es Absetzbewegungen zum Wohl des eigenen politischen Überlebens und Befreiungsbewegungen aus der Demokratie heraus. Diese Initiativen haben in etwa so viel mit demokratischen Aufbrüchen zu tun wie Ratten, die ein sinkendes Schiff verlassen, mit Entdeckergeist.


Ludi Fuchs,
11.6.2017, 116. Jahrgang, Nr. 162.

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