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«Wandzeitung» vom 15.2.2017:

Im schwarzen Tunnel des russischen Winters:

Petersburger Nachtexpress.

«So, nun wird es schon wieder heller – bald sind wieder die weissen Nächte», verkündete meine stets optimistische Büronachbarin Tamara gestern. Im selben Tonfall konstatiert sie im September eine ähnliche Banalität – es werde nun schon wieder dunkler, und schon bald sei das Neujahrsfest. Allerdings wirkt da die positive Note schon etwas erzwungener, denn für viele ist der lange, dunkle und kalte Petersburger Winter schwer zu ertragen.

Herbst, Winter und Frühling scheinen in einem einzigen grauen Streifen zu verschmelzen – dasselbe geschieht mit Tag und Nacht. Ganze Wochen und Monate verbringt man im Halbdunkel, und man kriegt die grösste Lust, bei den Nachbarn zu fragen, ob es bei ihnen vor dem Fenster genauso trist aussehe. Das Grau scheint sich zu materialsieren und an den Autofenstern zu kleben. Hektoliterweise wird dagegen Scheibenputzmittel versprüht – als könnte man damit den Horizont freiwischen. Zwecklos.

Man ist richtig dankbar, wenn es dazwischen mal kräftig schneit, und es kalt wird, dass es kracht – das bringt wenigstens ein bisschen Kontrast, und man weiss, dass es Sonne und Himmel noch gibt. Natürlich gibt es die Feste – Neujahr, dann die verspäteten Weihnachten usw. Aber sie sind mir fast zu grell – wie optische Aufheller.

Manchmal fühle ich mich wie in Dürrenmatts «Tunnel» – auf einer endlosen Höllenfahrt ins Dunkel, bei der die Geschwindigkeit nicht mehr spürbar ist, und man nur weiss, dass es vorwärts geht. Ein bisschen gemütlicher wird es, wenn mir die Vorstellung gelingt, ich sässe in einem Nachtzug. Und wenn ich mich dann noch in eine lauschige Kneipe setze, und ins Dunkle rausschaue, ist es wie im Speisewagen. Im Nachtexpress.

Man muss dem Dunkel etwas Schönes abgewinnen – unbedingt! Wenn sich meine Freunde über die Dunkelheit beklagen, werde ich geradezu zum Verfechter der Winternacht. Freundlich wie ein Apotheker diktiere ich ihnen, was in die Überlebenspackung gehört: heisser Tee, viel Schokolade und eine gutes Buch. Ich bin überzeugt, dass man damit gegen fast alle Varianten der schleichenden Tristesse gewappnet ist.

Lesen hilft – darum habe ich auch die «Nacht der Bücher» beibehalten, die ich mir in der Schweiz am Ende der Sommerzeit eingerichtet hatte, wenn man die gestohlene Stunde zurückbekommt. Hier in Russland gibt es die Sommerzeit nicht mehr, aber eine Nacht mit Büchern ist wie eine Mobilisierung sämtlicher literarischer Helfer im Gestell.

Ludmila, eine andere Arbeitskollegin trägt stets einen Band der Zeitschrift «Ausländische Literatur» aus der Bibliothek bei sich in der Handtasche – wie ein Talisman. Auf dem dunklen Weg zur Metro, auf der Rolltreppe und während der Fahrt diskutieren wir die AutorInnen und unternehmen dabei kleine Reisen in fremde Leseländer, die wir uns bunt ausmalen.

Und irgendwann wird dann tatsächlich das Tunnelende sichtbar, auf das man mit Ungläubigkeit starrt. Vielleicht funkt der Februar noch mit einem kräftigen Frost dazwischen, aber durch die zugefrorenen Fenster leuchtet die blutrote Morgensonne. Und es nimmt es niemand übel, wenn Tamara wieder sagt, was bereits alle wissen: Es werde nun schon wieder heller.


Eugen von Arb,
15.2.2017, 116. Jahrgang, Nr. 46.

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