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«Wandzeitung» vom 17.10.2014:

Ein Plädoyer für die Langsamkeit:

Auch der Zug ist noch zu schnell.

Als ich einem Arbeitskollegen vor meinen Ferien in Süditalien sagte, ich würde im Zug nach Apulien reisen, schluckte er leer. Etwas überrascht über meine Transportmittelwahl sagte er, dann sei ich ja 24 Stunden unterwegs. Die Zeiten haben sich aber geändert beziehungsweise die Züge sind schneller geworden! Denn von Winterthur nach Lecce sind es heute «nur noch» 15 Stunden. Mit einmal umsteigen in Zürich und dann in Mailand.

Nicht, dass ich von mir aus auf die Idee gekommen wäre, einfach einen günstigen Flug nach Brindisi zu suchen! Meine Reisebegleiterin, eine Freundin, deren Eltern aus Süditalien stammen, hat Flugangst und nimmt das Flugzeug deshalb nur, wenn es nicht anders geht. Ausserdem ist sie sich lange Zugfahrten von Kindesbeinen an gewöhnt. Tag und Nacht seien sie damals unterwegs gewesen, die Eltern mit ihren drei Töchtern. Lustig und interessant, die Begegnungen mit Migrantinnen und Migranten, die ferienhalber zurück zu ihren Wurzeln gingen. Ein langsames Ankommen, eine Reise vom Norden in den tiefen Süden Italiens, nach Kalabrien.

Noch immer schwirren mir Bilder von unserer gemeinsamen Rückreise durch den Kopf: Wir um 6 Uhr morgens mit unseren kleinen Rollkoffern, die einen Höllenlärm machen, streifen durch die in warmes gelbes Licht getauchten Gässchen Lecces. Der Zug schon da, der Wagen und die nummerierten Plätze bald gefunden. Einige wenige Pendler, wohl eine der wenigen Italiener, die weder ein Auto noch ein Motorino haben, andere Reisende wie wir, die mit Gepäck unterwegs sind. Leute steigen aus und neue steigen dazu, und das Eisenbahngleichnis von Erich Kästner kommt mir in den Sinn: «Wir sitzen alle im gleichen Zug und reisen quer durch die Zeit. Wir sehen hinaus. Wir sahen genug. Wir fahren alle im gleichen Zug und keiner weiss, wie weit.»

Klar, wir wussten es. Und klar, wir schauten immer wieder auf die Uhr. Wie viele Stunden waren wir schon unterwegs? Wie viel fehlte noch? Stundenlang fuhren wir bei schönstem Wetter der Küste entlang. Wir sahen Menschen angeln, dem Strand entlang joggen oder entlang spazieren, wir sahen sie in Badekleidern, die Haut gebräunt. Ein friedliches Bild und die Sehnsucht, den Zug anzuhalten und die Füsse selber in das Wasser zu stecken. Noch einmal... Aber der Zug fährt weiter, zu schnell, um alles genau zu sehen. Wunderbar farbige Häuser, Palmen, begrünte kleine Städte, dann der erste Wermutstropfen: Apulien liegt hinter uns. In Rimini wissen wir, ungefähr die Hälfte ist geschafft. Bei meiner Freundin setzt die Melancholie ein. Ich spüre, das Verlassen des Südens macht sie traurig. Mit jedem Tag unseres Aufenthaltes blühte sie mehr auf, so schien es mir. Norditalien: wie anders die Landschaft! Mailand ist kühl und neblig und nass, das Tessin ebenso...

Und ich denke nur noch an meine Wurzeln, an Lateinamerika.

 

 


Rosmarie Schoop,
17.10.2014, 113. Jahrgang, Nr. 134.

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