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«Wandzeitung» vom 13.9.2014:

Es ist nicht unser Verdienst Schweizerin oder Schweizer zu sein:

Es ist ein reiner Glücksfall.

Die ersten Befragungsrunden in der Bürgerrechtskommission sind vorbei. Und sie haben Eindrücke hinterlassen, mich zum Nach- und zum Umdenken gebracht. Für alle die gerne wissen möchten, welche Fragen wir den Menschen aus aller Welt stellen, die Winterthur als neue Heimat gewählt haben und sich nach mehreren Jahren in unserer Stadt einbürgern lassen möchten, stelle ich hier einige dieser Fragen zurück:

Wie viele Einwohner leben im Kanton Zürich? Richtig, zirka 1,4 Millionen. Und in der Stadt Zürich? Ja, so um die 400 000. Wann finden in Winterthur die Wochenmärkte statt? Genau, dienstags, freitags und samstags kann man durch Blumen- und Gemüsestände schlendern. Und wann und von wem wurde Winterthur gegründet? Nein, falsch. Es war nicht Graf Rudolf von Habsburg, der hat uns 1264 bloss das lang ersehnte Stadtrecht verliehen. Gegründet wurde Vitudurum von den Römern, ungefähr um Christi Geburt. Na, hätten wir Sie einbürgern können?

Aber mal abgesehen von der Bewertung dieser Fragen, und mal ganz abgesehen von der Problematik der Bürgerrechtskommission an sich:

Am Ende der Befragung stellen wir immer die gleiche Frage: Warum möchten Sie Schweizerin, Schweizer werden? Oftmals folgen Antworten die sich auf das Heimatgefühl und die emotionale Verbindung zur Schweiz beziehen. Was man eben so sagt, wenn einem diese Frage gestellt wird, denke ich dann. Was mich innerlich stocken lässt, sind Begründungen wie: «In der Schweiz ist man frei von Repression, hier herrscht Gleichberechtigung.» Oder: «In der Schweiz hat man die Chance, sich am politischen Prozess zu beteiligen, der eigenen Meinung Ausdruck zu geben. In meinem Heimatland geht das nicht.»

Immer wieder vergessen wir, wie privilegiert wir sind. Es entfällt uns, dass wir oft nach Problemen suchen müssen, gegen die wir ankämpfen. Wir leben ohne Versorgungsnot, haben Zugang zu Bildung und sind frei, uns unsere Meinung zu bilden und sie zu äussern. Wir haben die seltene Chance, nicht nur an Wahlen, sogar auch an Abstimmungen über Sachfragen teilzunehmen. Wir dürfen schreiben, lesen, sagen, was uns stört.

Und wir müssen uns fragen, wie wir mit diesem oft vergessenen Privileg umzugehen gedenken. Ich lese den Text von meinem Gemeinderatskollegen Christoph Baumann vom 27. August und muss ihm bedrückenderweise zustimmen. Wenn uns bewusst wird, wie gut es uns geht, haben wir zwei Reaktionsmöglichkeiten:

Entweder obsiegt Angst, dass man uns wegnimmt, was unsere Vorfahren erbaut und lange behütet haben. Daraus entstehen Einwanderungsquoten, Minarettverbote und immer weitere Verschärfungen unserer Ausländerpolitik. Oder es überwiegt der Drang, den Wohlstand und die Freiheit nicht zu horten, sondern zu teilen und damit zu vervielfachen, so dass möglichst viele davon profitieren können.

Es ist nicht unser Verdienst, dass wir bereits Schweizerinnen und Schweizer sind. Das war Glück, genetisches sozusagen. Und dieses Glück sollten wir, ja müssen wir zu würdigen wissen. Mit Eigenverantwortung. Mit Teilnahme. Damit, dass wir unsere Zukunft und auch die unserer Mitmenschen ernst nehmen und mitgestalten, so dass sie für alle möglichst gut wird.


Anita Hofer,
13.9.2014, 113. Jahrgang, Nr. 100.

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