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«Wandzeitung» vom 2.11.2015:

Alltägliches:

Schmerz hat viele Gesichter.

Dies ist mein Jahr der körperlichen Schmerzen. Ich kann sie weder abhängen noch irgendwo aufhängen. Höchstens an einen Haken der Buchstaben. Und ich bin nicht allein. Wenn man es wagt, ehrlich zu sagen, dass es einem schlecht geht, kommt der Gegenüber meistens auch mit seiner Geschichte raus.

Es ist erschreckend, wie viele Lebewesen mit Schmerzen leben müssen. Selbst Vierbeiner mit chronischen Krankheiten sind in meinem Umfeld und ich frage mich, wo da die Grenze ist. Wenn sie gehen müssen verursacht dies wiederum Schmerzen seelischer Art. Aber was ist besser? Wenn wir die Entscheidung treffen müssen, Leiden zu beenden, ist das eine Aufgabe, die weh tut. Wir müssen harte Entscheidungen fällen und dann die harten Konsequenzen tragen. Was, wenn der Schmerz gerade dadurch allzu zu gross ist? Der Entschluss seinem Leben ein Ende zu setzen, wenn der Leidensdruck zu gewaltig ist, wird in der Gesellschaft schlicht nicht akzeptiert. Glücklicherweise darf man notfalls sein Haustier erlösen. Aber dafür müsste man es einfach loslassen können. Oft werden die eigenen Tiere als Aufgabe, Kinderersatz und Kompensation jeglicher Art verzweckheiligt. Zu Recht? Wo beginnt die Tierliebe und wo hört sie auf? Alles eine Ansichtssache. Genauso wie man mit seinen Schmerzen umzugehen hat. Verschweigen und sie betäuben? Zum Beispiel wie meine unbekannte Bekannte, die ihren Einsamkeitsschmerz täglich mit unzähligen Bierdosen zuschüttet. Ist sie einsam, weil sie trinkt oder trinkt sie, weil sie einsam ist? Neuerdings findet man sie jeden Mittag am Bahnhof. Dort sucht sie die Aufmerksamkeit, die ihr so fehlt. Sie kommt mit ihren weissen Plastiksäcklein angeraschelt. Jeder weiss, dass dort Bierdosen drin sind. Obwohl sie etliche Säcke ineinanderwurstelt, damit es blickdicht ist. Sie packt tapfer ein Geschirr mit Fertignahrung aus, löffelt es im Stehen und wandert ruhelos, mit ausladenden Schritten und wild gestikulierend immer wieder zum Papierkorb. Das Trinken hebt sie sich für später auf. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Manchmal spricht sie liebevoll mit einer Taube, die betteln kommt. Und zottelt dann hinkend wieder von dannen, wenn sie genug hat vom Leute beobachten und die nächste Dose lockt.

Natürlich mache ich alles, um meinen Schmerz wieder loszuwerden. Ich horche in ihn hinein. Versuche zu befolgen, was ich höre. Ich gehe zum Spezialisten, mache meine Übungen, bin kreativ, gehe neue Wege, schimpfe mit meiner Pein, lasse sie ein und schmeisse sie wieder aus meinen Gedanken. Eine Balance zwischen ignorieren und nachgeben. Aktivität und Pausen einschalten. Zudröhnen ist für mich keine Lösung, was das anrichtet, sehe ich in meinem Umfeld. Viele funktionieren nur mit Schmerzmitteln oder Drogen – oder sie denken, sie funktionieren und lassen das Elend in einen immer breiter werdenden Umkreis ausbreiten. Veränderung ist schwierig und unbequem. Mein Schmerz ist ein Rätsel mit Teillösungen und nicht im Kopf gemacht wie vieles. Ich hinterfrage und bleibe am Ball. Auseinandersetzung ist mein Weg. Schmerz hat viele Gesichter. Stehen wir dazu.

 

 


Momo Appenzeller,
2.11.2015, 114. Jahrgang, Nr. 306.

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