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Herausgeber: Guido Blumer & Roger Rutz.
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«Wandzeitung» vom 7.9.2015:

Die Trauer um ein verstorbenes Kind ist nach einem Jahr – weiss Gott – nicht abgeschlossen:

Und plötzlich fliessen die Tränen!

Manchmal, wenn ich bei der täglichen Rasur in den Spiegelschrankspiegel schaue, sehe ich in meinen Augen diejenigen meines – im Alter von 39 Jahren – verstorbenen Sohnes. Auch die Gesichtszüge erkenne ich vis-a-fies wieder. Wir ähneln uns, das heisst: wir haben uns zu seiner Lebenszeit geglichen. Und wenn ich ihn also quasi in meinem geistigen Auge präsent habe, dann kriege ich mitunter auch nach zwölf Monaten feuchte Augen. Einfach, weil er mir fehlt, wohl immer fehlen wird, obschon doch die gesellschaftliche Schonfrist für Hinterbliebene nach einem Jahr knallhart abgelaufen ist.

Um den Trauernden helfen zu können haben die Psycho!Profis definiert, wie lange die «normale» Betrübnis dauern darf, bis sie pathologisch wird, also: abnorm, abnormal, anomal, extrem, krankhaft, masslos, übermässig und umgangssprachlich: gestört. So wird der gesellschaftlich tolerierte Seelenschmerz auf präzis 365,242199 Tage gesetzt. Wenn ich mich also über diese Frist hinaus wieder und wieder an dieses geliebte Wesen erinnere und das nicht ohne Emotionen schaffe, dann verstosse ich gegen allgemeinheitliche Richtlinien. Ich fürchte als Mann, der nahe ans Wasser gebaut ist nicht, dass ich halt – voll logisch – pathologisch bin. Dieses Teilgebiet der medizinischen Wissenschaft, beschäftigt sich – höflich formuliert – mit seltsamen Vorgängen und Zuständen im Körper sowie mit deren Ursachen. Gegenstand der Erforschung sind sowohl Einzelphänomene (Symptome) als auch Symptomverbände (Syndrome) sowie Missbildungen aller Art. Die Pathologie untersucht die Herkunft, die Entstehungsweise, Pathogenese, die Verlaufsform und die Auswirkungen von Krankheiten einschliesslich der jeweiligen Vorgänge im Körper, der Pathophysiologie. Das tönt jetzt so was von gescheit, dass ich mich grad als bedeutendes Objekt oder noch wichtiger: das lateinische obiectum empfinde, das sich im Schmerz suhlt. Es scheint womöglich, dass ich im Auftrag des Volkes einen Seelenklempner brauche und Krankenkassengeld für die Seelenheilung verbrate. Chabis!

Ich gehe davon aus, dass wer allzeit zu trauern vermag, auch immerdar lachen kann und darf. Ämel schmunzle ich manchmal ausgedehnt und lache sogar laut. Trotzdem bewegt es mich, wenn ich daran denke, wie ich meinen kalten Sohn, mit friedlichem Gesicht, an die Schultern fasste und sich meine Hände vor lauter übermittleter Kälte schmerzten. Er war mit sich im Reinen, mit sich im Lot, sein Gesicht zufrieden, obwohl er und wir – kurz vor seinem in gewisser Weise sanften Tod – gerade erst die letzte Hoffnung verloren hatten. Sein gurgelndes Lächeln werde ich jedenfalls genauso nicht vergessen, wie mein letzter Blick auf den entseelten Sohn.

Aber es muss trotz erhellenden Sonnentagen und der inneren Ruhe aller Hinterbliebenen bis ans Ende auch ihrer Tage Trauermomente geben dürfen. Die Sehnsucht nach dem unerreichbaren geliebten Menschlein, dem verehrten Sohn, Bruder und Enkel ist mitunter stärker, als gesellschaftliche Vorstellungen und Vorgaben. Trauertränen setzen auch den mächtigsten Willen ausser Kraft und zeigen uns Menschen unsere Grenzen auf. Der Tod, schrieb Hoimar von Ditfurth, ist der Preis, ohne den es höheres Leben nicht geben kann. Wunderbar!


Guido Blumer,
7.9.2015, 114. Jahrgang, Nr. 250.

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