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«Wandzeitung» vom 9.5.2015:

Reisen in Sanktionszeiten:

Russland schliesst sich
im Kinderzimmer ein.

Ich erlebe die Ukraine-Krise hinter dem Schreibtisch. Die Meinungsfront verläuft genau zwischen meinem und dem von Tamara meinem Gegenüber und «Volkes Stimme». An dieser Linie tobten in den vergangenen Monaten Wortgefechte, bis alle einsahen, dass alle Überzeugungsversuche zwecklos sind, weil sowieso alle nur hören und sehen, was sie wollen. Seither herrscht Waffenruhe und man ist betont diplomatisch. Man spricht über das Wetter oder andere Belanglosigkeiten. Das Spektrum an Gesprächsthemen ist äusserst begrenzt. Nicht einmal mehr über die Ferien kann man offen reden, ohne Farbe zu bekennen. Denn da wird ja sofort klar, wer zu wem fährt, oder eben nicht mehr, oder jetzt erst recht, oder jetzt eben erst recht nicht mehr. Ein Krim-Urlaub kann durchaus als politisches Statement aufgefasst werden. Kürzlich hörte ich wie Tamara mit ihrer Gesinnungsgenossin Inna herumtuschelte. Ich verstand nur: «Nach Europa musst Du jetzt sicher nicht mehr – die hassen uns dort jetzt sowieso alle ...» Das sagte Tamara mit einem wehmütigen Seufzer. Ich war schockiert, denn einmal mehr erkannte ich die Wirkung der ideologischen «Giftspritze», die dem russischen Fernsehpublikum täglich verabreicht wird. Tamara gehört noch der Sowjetgeneration an und reagiert ganz «automatisch» auf die Impulse des kalten Krieges. Aber es lagen auch Trotz und Stolz in ihrer Stimme – wie bei einem Kind, das sich in sein Zimmer eingeschlossen hat und nicht herauskommt, obwohl es seine Fehler einsieht. Einfach, weil es genug davon hat, immer gleich als Alleinschuldiger in die Büsser-Ecke gestellt zu werden. Ist das nicht auch mit Russland so? Reisen war der grosse Traum all jener, denen die Sowjetunion zu eng war – zum Beispiel mein Freund Alexei, dessen Reisehunger unersättlich ist. Bei jeder Gelegenheit «rast» er um den Erdball und hat schon viel mehr gesehen als ich. Aber Tamara ist nie über das russische Standardrepertoire hinausgekommen: Badeferien in Tunis, Ägypten und in der Türkei. Hat sie bei diesem Massenurlaub wirklich etwas Neues gesehen und verstanden, bzw. wollte sie das überhaupt? Dass ihre Weltoffenheit und Neugier extrem schwanken können, habe ich bei den Englischlektionen bemerkt. Anfangs redete sie sich ein, sie könne nichts mehr behalten, doch dann war sie plötzlich Gruppenerste. Genau zu dieser Zeit begann sie auch Pläne zu schmieden, allein einen Trip nach Italien zu machen. Eine neue Sprache kennen, andere verstehen, Selbstvertrauen bekommen, Träume verwirklichen – darum ging es. Dann kam der Schlamassel in der Ukraine. Auch das ist ein Bild für ganz Russland – dieses Schwanken zwischen Selbstverachtung und Selbstüberschätzung. «Wie kannst Du es als Schweizer in einem solchen Land aushalten?» – Das fragen mich die Russen kopfschüttelnd, wenn Sie über ihr eigenes Land fluchen. Und jetzt, wo sie sich den Sandhaufen Krim gekrallt haben – diese Grosstuerei, die mich den Kopf schütteln lässt. Und dazwischen gibt es nichts. Für mich steht jedenfalls fest: Es war ein Riesenfehler, mit den Englischstunden aufzuhören. Ich und Tamara müssen uns wieder an einen Tisch setzen und zusammen eine neue Sprache lernen.

 


Eugen von Arb,
9.5.2015, 114. Jahrgang, Nr. 129.

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Standpunkte:

19.5.2015, 15:22 Uhr.

Eugen von Arb schrieb:

Obwohl es auf den ersten Blick vielleicht den Anschein hat, so glaube ich nicht, dass Russland eine wirkliche Bedrohung darstellt – es ist zu schwach, militärisch und vor allem wirtschaftlich. Auch eine Diktatur, beziehungsweise eine Rückkehr zum Sowjetsystem ist nicht mehr möglich, so sehr auch manche RussInnen davon träumen mögen. Es fehlt die wichtigste Voraussetzung dafür – eine Ideologie, wie der Kommunismus eine war. Der Ukraine-Konflikt gehört immer noch zum Auflösungsprozess der Sowjetunion. Er stellt aber gleichzeitig auch die Alleinherrschaft der USA und die Abhängigkeit Europas von Amerikas in Frage, was unvermeidbar ist. Europa muss sich emanzipieren, reformieren und eine (Selbst-)Isolierung Russlands verhindern. Russland muss sich von den Gespenstern des Imperialismus befreien und verstehen, dass es ohne eine Öffnung nach aussen und Reformen keine Zukunft gibt.


10.5.2015, 10:56 Uhr.

Pierre-François Bocion schrieb:

Ja, die gewaltige Militärparade gestern auf dem Roten Platz hat sicher einigen die Augen geöffnet. Russland ist für den Westen und somit auch für die Schweiz wieder gefährlich geworden. Aufrüstung ist ein Gebot der Stunde, der Vor- und Weitsicht. Was für eine Diktatur wird es dieses mal in Russland? Die Ziele hat ja Putin vor einiger Zeit selber formuliert: Er will Osteuropa wieder beherrschen.


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