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Herausgeber: Guido Blumer & Roger Rutz.
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«Wandzeitung» vom 24.4.2015:

Das elfte Gebot gebietet, dass der Mensch eigenständig denken und handeln darf:

Jahr für Jahr neue Verunordnungen!

Rudolf, 77, gewesener Tischler und prächtig rüstig, streift allein mit seinen Überlegungen durch den bewaldeten Lindberg. Er schreitet in Eile durchs kiesige Rosental, den Walcheweihern zu. Da liest er das polizeilich verordnete: Betreten der Eisfläche verboten. Ihm schiesst die Wut ins Hirn. «Immer diese hohle Verbieterei!»

Neuerdings plaudert er im Flüsterton, wenn er allein ist. Ihm gibt seine Alterswut zu denken. Er findet es krass, wie die politische Klasse die Regulierung des helvetischen Alltagslebens hegt! Da wird per Bussendrohung das Füttern von Tauben verboten, das Spucken, der Ausgang von Teenagern im Dunkeln, das nächtliche Trinken im Freien, das Grillieren in Parks, der Einsatz von Laubbläsern. Es darf weder geraucht werden, noch Qualmfreier in der Kälte mit Heizpilzen gewärmt. Bevor wir in geschlossenen Tankstellenshops demnächst verbotenes Mineralwasser in Flaschen klauen, hauen uns die SBB ihre hirnrissige Bahnhofordnung vor den Grind. In diesen halbstaatlichen Distrikten dürfen nicht mal demokratische Rechte ausgeübt werden: keine Unterschriften gesammelt, keine Reden in Szene gesetzt. Es darf nicht auf den Boden oder die Treppe gestürzt werden – dort zu liegen ist nicht gestattet. Rettungswege sind freizuhalten und ungebührliches Verhalten im Bahnraum zu vermeiden.

Allein die Gedanken sind frei! Und jetzt dies: Eisfläche betreten verboten! Wann gefriert schon in Winterthur ein Wässerchen? «Grümpel entrümpeln!», zischt’s aus R. Ihn entnervt die zunehmende Beschneidung der individuellen Redlichkeit. In Erregung wird sein Schritt hastig. Er wandert über Weglein und Wege, biegt in die Kuhstellstrasse ein, geht nun gelassen zwischen mächtigen Föhren und Tannen durch, die ihn zum Sinnieren inspirieren. Er verehrt diese aufgebäumten Gewächse. Er hätte im Leben gerne Spuren hinterlassen. Jetzt heisst er seine Erkenntnis lächelnd willkommen, dass Blätter von den Bäumen fallen, Denkmäler zerfallen, Daten im Web verschwinden.

Als Monument hat er sein Dasein abgeschrieben. Das Träumen hat er sich bewahrt: von der Schönheit seiner Frau, von seiner geliebten Familie, dem faszinierenden Handwerk, der Politik, mächtigen Bäumen, Ästhetik. Er deklamiert aus Schillers Lied der Glocke: «O zarte Sehnsucht, süsses Hoffen, der ersten Liebe goldne Zeit! Das Auge sieht den Himmel offen, es schwelgt das Herz in Seligkeit.» Sanftmut überkommt ihn. «Ja, nun!», denkt er, ihm zog der Vater weiland jedes Furzes wegen die Hose stramm. Heute züchtigt Vater Staat sowohl ihn, als auch alle anderen Volksseelen mit jährlich 5000 Briefbogen voll neuer Verunordnungen. Er hofft, die Mächtigen mögen endlich erkennen, dass Menschenkinder nebst dem Hintern auch noch ein Hirn haben.

Ein dominanter Holzzaun, beidseits des Oberen Alpguts, beengt ihn wie der Regelwahn. Er lechzt nach dem Verbot von Verboten und heftig nach dem elften Gebot, dem nach geistiger Freiheit: «Du sollst deinen Nächsten für mündig halten.»

Im Tössertobel spaziert eine Frau vor ihm, mit mikrigem Rucksäckchen und eng anliegendem Gewand, das sie zur Wurst macht. Ihn überfällt der schändliche Gedanke, derart Hässliches zu verbieten. Er schmunzelt.


Guido Blumer,
24.4.2015, 114. Jahrgang, Nr. 114.

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