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«Wandzeitung» vom 25.2.2015:

wenn einer eine reise tut ...

suffizienz.

gelegentlich fahre ich mit dem schnellzug von winterthur nach zürich. kurz vor der ersten station geht das gerangel los. leute stehen auf und bemächtigen sich ihrer gepäckstücke, die mit grossen etiketten weltweite destinationen anzeigen. zwei ungetüme von rollkoffern manövriert der mann im bunten sommerhemd durch die sitzreihen zum ausgang, seine gefährtin müht sich mit einem kleineren gefährt und einer grossen umhängetasche, aber nun hält der zug, sie drängen aufs perron hinaus und schaffen es, einen gepäckwagen zu ergattern. unterdessen sind andere in unser abteil eingedrungen, haben die leeren gepäckgestelle wieder aufgefüllt und einen sitzplatz gefunden. sie kommen von sibirien zurück oder von südafrika oder auch ‚nur‘ von den kanarischen, und sie streben braungebrannt berndeutschem zuhause entgegen.

eine merkwürdigkeit zeigt sich in diesem geschehen. wer reist, möchte seinem alltag einen kontrapunkt entgegensetzen. dem leben, geprägt von terminen, denen diese zeitgenossen untertänig sind – ob sie sie nun selber gesetzt haben oder ob sie ihnen diktiert worden sind – wollen sie für eine gewisse zeit entkommen. zu andern ufern aufbrechen, aber mit dem retourbillet in der tasche, das wollen sie. was braucht es dazu? was ist dafür notwendig, was ist not-wendig?

haben sie in afri- oder amerika wirklich verwendung für all den hausrat, den sie da in kloten verladen? ich weiß von einem andern reisenden, dessen gesamte utensilien, ob für drei tage oder für drei monate, in einem rucksack platz finden und nicht mehr als sechs oder sieben kilo wiegen. eine wundersame leichtigkeit gebe ihm das, sagt er, und schaffe einen wohltuenden abstand zu den besitztümern, die sich zu hause angehäuft hätten. er brauche, ausser den kleidern, die er bei der abreise auf dem leib trage, in seinem rucksack (1200 gramm schwer) bloss eine garnitur ersatzwäsche (480), eine zusätzliche kleidung, mit der er sich im hotel zeigen könne (1500), eine regenhaut und einen knirps (260), einen beutel mit den artikeln für körperpflege und kleiderwäsche (400), sackmesser, sonnenschutz, schreibzeug (200), haussocken und einen waschlappen als frottiertuch (150), digicam und handy (200), dazu noch das ausweiskärtchen sowie jene teure plastic-karte, die ihn weltweit zum sympathischen menschen macht (10). je nach reiseziel komme noch dies und das dazu (950), und viel trage zum gefühl von unabhängigkeit bei, wenn er auch einen schlafsack dabei habe (1250), mit dem er nachts, sollte sich mal kein logis finden lassen, bequem überlebe. mit all dem könne er sich sowohl auf einsamen pfaden auf der krete des appenins als auch im dichten menschengewühle von siena ohne not und im aufrechten gang bewegen.

enthaltsamkeit einzuüben und geniessen zu lernen: dazu bietet sich beim reisen die beste gelegenheit. jahraus und -ein leben wir auf zu grossem fuss. und wir werden nur reicher, wenn wir uns auf das wenige konzentrieren: auf den nächsten schritt.

nicht mehr als das nötigste mittragen – ça suffit.


Alfred Vogel,
25.2.2015, 114. Jahrgang, Nr. 56.

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