Logo Wandzeitung
Herausgeber: Guido Blumer & Roger Rutz.
Archiv:   Blog:   Echo:   Home:   Kontakt:   Leitbild:   Partner:   Sponsoren:   Twitter

«Wandzeitung» vom 25.12.2015:

alle jahre wieder ...

werdet wie die kinder.

kein anderes christliches fest ist in seinen ritualen und gepflogenheiten so verfälscht und in sein gegenteil verwandelt worden wie weihnachten. da war nach der legende in einem armseligen stall ein armeleutekind auf die welt gekommen, das zum retter und erlöser der welt bestimmt war. von weit her waren drei gelehrte erschienen und hatten ihm geschenke gebracht: gold, weihrauch, myrrhen, und aus dieser geste hat sich im lauf der jahrhunderte ein weltweiter kauf- und warenaustauschrausch ohne grenzen entwickelt. es müsste die weltwirtschaft zusammenbrechen, wenn es uns gelingen sollte, diesem zwanghaften treiben ein ende zu bereiten.

indessen ginge es an weihnachten um dieses kind (das dann auch zum flüchtlingskind wird). von einer liebenden mutter ist es umsorgt und von einem schützenden vater behütet, es hat weder pläne noch ansprüche, es liegt auf seinem strohbündel und strahlt die welt rundum an, wie die lilien auf dem felde, und alle, die bei ihm sind, werden bescheiden und heiter. was soll denn unser weihnachtsgebaren mit dieser geschichte zu tun haben? was soll diese lichterschwemme, in welcher der hellste weihnachtsstern ersaufen muss? noch das beste am fest sind unsere weihnachtslieder und ist unsere weihnachtsmusik, mit der wir uns zu den singenden und jubilierenden engeln gesellen. um das neugeborene kind ginge es, auch um mich als kind und um die aufforderung «werdet wie die kinder». dass in diesem ganzen getümmel das leuchten von kinderaugen immer noch aufscheinen kann, ist ein wunder für sich.

nebenbei: wann haben sie das letzte mal einem kind zugeschaut, das im sandhaufen oder mit seinem bäbi spielt? es will nichts scheinen und nichts vormachen, es ist ganz bei sich selbst, ganz selbstvergessen. zeit und welt sind aufgehoben. und wann haben sie selber solche vergessenheit erlebt, solche künstlerische freiheit? vielleicht fehlt ihnen in den allernächsten tagen die zeit dazu, weil sie damit beschäftigt sind, geschenke umzutauschen…

die schönste weihnachtsgeschichte unserer tage, die ich kenne, ist franz hohlers kurze erzählung «verkündigung» (im bändchen «das ende eines ganz normalen tages»). da ärgert sich einer, als im zug, nicht weit von ihm, ein handy zu piepsen beginnt, womit es nun vorbei sein dürfte mit ruhigem lesen, und der junge mann klaubt sein gerätchen hervor und sagt dann laut: «nein! wann? gestern nacht? und was ist es? ein bub? so herzig! 3 1/2 kilo? und wie geht es jeannette? so schön! sag ihr einen gruß, gell! wie? oliver?» und hohler fährt fort: «und über uns alle, die wir in der nähe sitzen und durch das gespräch abgelenkt und gestört werden, huscht ein schimmer von rührung, denn soeben haben wir die uralte botschaft vernommen, dass uns ein kind geboren wurde.»

 

 


Alfred Vogel,
25.12.2015, 114. Jahrgang, Nr. 359.

Artikel als PDF downloaden

Zu diesem Artikel wurde noch kein Standpunkt abgegeben.

 

Veröffentlichen Sie als erste Person Ihren

Standpunkt*:

Name:

*Wir freuen uns sehr über Ihre Gedanken zum Text des Tages, bitten Sie jedoch, keine Personen zu verunglimpfen und deren Haltung mit Respekt zu begegnen. Danke schön. Verstösse gegen unser Leitbild werden indes nicht verbreitet.

 

Winterthurs kleinste Zeitung der Schweiz.