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«Wandzeitung» vom 29.3.2015:

Kopfstand:

Die Stillen sind die Gefährlichen:

Jetzt sind sie wieder da, die Fassungslosen. Wie immer, wenn einem Täter alle Sicherungen durchbrennen und er Andere mit in den Tod reisst, vom Zuger Kantonsrat über Sandy Hook bis zu Andreas Lubitz, müssen wir tags darauf in der Zeitung lesen, wie absolut unverständlich die Tat doch sei, da der Täter «ein so unauffälliger, stiller, zurückhaltender Mensch» gewesen sei. Nichts habe darauf hindeuten können, niemand habe etwas geahnt. Freundlich, angepasst, unauffällig – das sind die am häufigsten verwendeten Adjektive in den Kommentaren der Medien.

Müsste nicht gerade diese auffällige Unauffälligkeit, diese Angepasstheit längst argwöhnischer machen als jede Verhaltensauffälligkeit? Aber dann wären neunzig Prozent der Mitmenschen potenziell allgemeingefährlich, denn unsere Gesellschaft belohnt Duckmäusertum: Wer seine Meinung für sich behält und seine Gefühle verheimlicht, wer immer freundlich grüsst und höflich lächelt, nicht aneckt und nicht protestiert, der wird befördert. Wer hingegen Mut zu Kritik zeigt und auch mal ausruft, wem ab und zu der Kragen platzt, der gilt als unbequem bis störend und wird kaltgestellt oder entfernt. Dabei sind diese Menschen wichtige Sensoren – vor allem aber können sie ihren inneren Druck rauslassen und so abbauen.

Die Angepassten sind meist pflegeleicht, sie funktionieren reibungslos, verbrauchen keine Sitzungszeit und provozieren keine Zusatzarbeit – sie sind die angenehmsten, willkommensten Angestellten. Leider haben sie auch keine Übung im Umgang mit ihren Gefühlen und sind, wenn diese ausser Kontrolle geraten, überfordert. Wer ab und zu ausruft oder rumpoltert, lernt dadurch seine eigenen Emotionen kennen und einschätzen. vor allem aber hat er ein Ventil, durch das der psychische Druck abgeführt werden kann.

«Zurückhaltend» ist ein weiteres Wort, das für zu stille Menschen häufig verwendet wird. Sie halten etwas zurück, immer wieder, verstauen und verstecken ihre Gefühle in verspannten Nacken und Migräne, sedieren sie mit Chemie und leisten sich einen trendigen Burnout: wow, volle Leistung gegeben bis zur Selbstschädigung, chapeau, das ist Arbeitsmoral. Ich glaube nicht an Burnout als Resultat von Überarbeitung, weil ich noch nie jemanden getroffen habe, der von dem, was er gerne tut, zu viel bekommen hätte. Erst wenn die Person in ihrem Leistungseifer behindert und schikaniert wird, wenn sie ihre Arbeit nicht mehr mit Freude ausführen kann, wird das Tun zur Last – und wenn so ein Mensch dann kein Ventil kennt zum Druckabbau, wenn er alles in sich hineinfrisst, dann beginnt eine Blase unkontrolliert zu wachsen bis sie platzt.

Wir Netten, Angepassten, Pflegeleichten, Unauffälligen aber spielen alle miteinander das unsägliche «Wie geht's–sehr gut–und dir–mir auch» – Spiel, auch und gerade wenn wir innerlich leiden, weinen, bluten. Das sagt man doch nicht, das behält man für sich. Und manchmal für 149 Unglückliche, die im falschen Moment dabei waren, als das Verheimlichen und Hineinfressen dann doch nicht mehr so gut gelang. Darum sind mir die lauten Unbequemen lieber und die stillen Angepassten unheimlich.


Thomas Oeschger,
29.3.2015, 114. Jahrgang, Nr. 88.

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Standpunkte:

30.3.2015, 10:41 Uhr.

Pierre-François Bocion schrieb:

Der sehr gut geschriebene, lesenswerte Artikel beleuchtet richtig, dass sich die Menschen in unsere Gesellschaft immer mehr anpassen und das kreative, kritische Individuum mehr Standvermögen aufbringen muss, um in der Gesellschaft seinen Platz zu behalten.


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