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«Wandzeitung» vom 29.5.2015:

KOPFSTAND:

Die Weite des Lebens.

Ich spreche selten in der Bahn mit Menschen, aber kürzlich kam es dazu. Mein Gegenüber, eine etwa 50-jährige Frau, schien nervös, möglicherweise war der Zug verspätet, jedenfalls hörte ich mich sagen: «Es ist so viel Zeit in einem Menschenleben, kommt ihnen das Leben auch unendlich lange vor?»

Womit ich nicht gerechnet hatte, war ihr heftiger Protest: «Finden Sie? Mich dünkt es kurz. Eben noch hatte ich kleine Kinder, nun bin ich selber Grossmutter und alt.» Was wollte ich da noch sagen? Dass ihr Leben möglicherweise gleichförmiger verlaufen war als meines, das so viele Kapitel hat: Schon mehrere Kapitel Jugend allein, Studium, mehrere Berufe, auswandern und heimkehren, Beziehungen, die verblassten und andere, die unerwartet begannen?

Ich sagte nichts mehr. Die Frau hätte mich kaum verstanden. Ihr war ihr ganzes Leben vorgekommen wie ein einziger gleicher Tag, ihr privater GROUNDHOG DAY sozusagen. Und wenn sie an die Vergangenheit dachte, waren alle Erinnerungen nah und fast greifbar. Während mein Leben aussieht wie verkehrt durch den Feldstecher geblickt: in unendlicher Ferne verlieren sich die Jahrzehnte im Dunst, winzig klein sind sie geworden, all die Ichs, die ich mal war.

Man sagt, Menschen haben keinen Bezug zu Lebensaltern, die sie noch nicht durchlebt haben. Deshalb sind für Jugendliche alle, die älter sind als sie, einfach alt. Und ab 30 steinalt, was die Eltern mit einschliesst, just etwa dann, wenn sie sich so richtig zum zweiten Mal jung zu fühlen beginnen. Den greisen Grosseltern können sowieso nur noch Begriffe wie Fossilien, Grufties oder Zombies beikommen. Ich weiss noch, wie sich der 14-jährige Sohn einer langjährigen Freundin ekelte beim Gedanken, dass seine Mutter und ich gelegentlich mit diesen verschrumpelten Körpern Dinge taten (die doch für schöne Körper reserviert waren). Damals waren wir etwa 35.

Und nun bin ich selber längst «On the wrong side of the Fifties», wie die Iren sagen, und irritiert, denn ich fühle mich gegen alle Erwartungen überhaupt nicht alt. Obwohl ich für Teenager von einem ausgestopften Neanderthaler im anthropologischen Museum nicht mehr zu unterscheiden bin. Ich dachte, irgendwann beginne man sich dann so alt zu fühlen, wie man inzwischen aussieht. Wie in meinem Lieblings-Haiku: «Der Baum verliert sein erstes Blatt. Ich schaue in den Spiegel – das Gesicht meines Vaters.»

Am einschneidendsten erlebte ich die Vergänglichkeit, als beide Menschen, die für meine Existenz verantwortlich sind, von der Bühne der Welt abgetreten waren. Ich war allein. Zurück bleiben Schuhe, die ich tragen könnte von der Grösse her, Kleider, die ich nicht tragen könnte von der Mode her und Möbel, die meine Eltern in ein anderes Jahrhundert verbannen. Ein Jahrhundert, das bereits selber zur Geschichte zu werden beginnt: «Seit 1998» las ich kürzlich auf einem Handwerkerauto. Das ist offenbar erwähnenswert, signalisiert bereits Tradition. Wir sind nämlich nicht nur aus dem letzten Jahrhundert, wir gegenwärtigen Oldies, wir sind aus dem letzten Jahrtausend. Das schafft nach uns so bald niemand mehr.


Thomas Oeschger,
29.5.2015, 114. Jahrgang, Nr. 149.

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