Logo Wandzeitung
Herausgeber: Guido Blumer & Roger Rutz.
Archiv:   Blog:   Echo:   Home:   Kontakt:   Leitbild:   Partner:   Sponsoren:   Twitter

«Wandzeitung» vom 29.9.2015:

KOPFSTAND:

20 Mal sterben.

Eine Frage: Sterben Sie auch so gern? Finden Sie sterben auch so bereichernd, wohltuend? Ich sterbe eigentlich täglich. Oft mehrmals. Sterben ist für mich auch nichts Neues: Ich bin schon immer gestorben, seit meiner Geburt, aber in letzter Zeit habe ich das Sterben wieder neu entdeckt. Gerade jetzt im Herbst komme ich richtig in Stimmung.

Sterben gehört einfach dazu zum Leben, finde ich. Wie sähe die Welt aus, wenn immer nur Neues entstünde und nichts Altes aufhörte? Es gäbe nicht nur Überfluss, sondern auch Konflikte. Ich kann ja nicht gleichzeitig für und gegen etwas sein. Wenn das eine werden will, muss das andere sterben. Ich brauch’s dann ja eigentlich auch nicht mehr. Ich habe ja dann das Neue. Und brauche Platz dafür. Darum ist Sterben eine gute Sache.

Meistens merke ich ja erst hinterher, dass wieder mal ein kleines Sterben stattgefunden hat. Eine neue Meinung hat die alte verdrängt, eine Idee musste einer besseren weichen, eine Hoffnung, gestern noch verzweifelt gehegt, hat sich still davongeschlichen. Und hat Platz gemacht für Neues. Das Alte war nicht umsonst: Es wurde zum Nährstoff für das Folgende, zum Humus, aus dem das Neue aufblühen konnte. Darum ist Sterben so wichtig.

Aber auch mein Körper ist dauernd am Sterben. Nicht nur die Haare und Fingernägel, die ich entferne, die Hautschuppen, die abfallen: Der ganze Körper bis zur letzten Zelle sei nach sieben Jahren erneuert, habe ich gelesen. Von der materiellen Substanz her ist nichts mehr an mir von dem Menschen, der ich vor einiger Zeit noch war. Ich bin ein anderer Mensch – und doch derselbe. Wenn das stimmt. Schaue ich alte Fotos an, erkenne ich jemanden, der aussieht, wie ich mal ausgesehen habe, das Bild ist verwandt mit mir – aber es ist nicht mehr ich. Ich bin ein anderer geworden.

Viele Dinge sterben in mir, weil ich sie als fertig ansehe und nicht mehr verändere. Beziehungen verlieren ihre Kraft, weil sie, scheinbar ausgereift, stagnieren. Die Lektion darin ist radikal: ohne Sterben keine Entwicklung. Sterben ist kein Verlust, Sterben ist ein Übergang, eine Wandlung, so alltäglich, dass wir den Prozess meist gar nicht bemerken. Aber er begleitet uns vom Augenblick unserer Geburt an. Und er ist lebenswichtig.

Wenn man das alles erkennt und bedenkt, wird unverständlich, wieso in unserer Kultur das Sterben auf den einen Übergang genannt Tod reduziert wird, den man dann vor Angst nicht mal benennen darf, sondern sich in Formulierungen wie «wenn ich das Zeitliche gesegnet habe» zu retten versucht, als ob das Benennen schon genügte, um Unheil heraufzubeschwören. Das Unheil Sterben. Es geht nicht darum, dem Feind ins Auge zu sehen, es geht darum, im Sterben einen Freund zu erkennen. Denn wenn die kleinen alltäglichen Sterben nur Übergänge sind, wieso sollte es beim grossen Sterben anders sein? Nichts im Universum geht jemals verloren.

Weil das hierzulande zur Zeit so schwierig zu akzeptieren scheint, habe ich quasi als Therapie einen Text geschrieben, in dem das Wort «sterben» möglichst oft vorkommt. 20 Mal. Über 150 Wörter sind übrigens im Laufe des Schreibens wieder gestorben, damit diese Sätze hier werden konnten.

 


Thomas Oeschger,
29.9.2015, 114. Jahrgang, Nr. 272.

Artikel als PDF downloaden

Zu diesem Artikel wurde noch kein Standpunkt abgegeben.

 

Veröffentlichen Sie als erste Person Ihren

Standpunkt*:

Name:

*Wir freuen uns sehr über Ihre Gedanken zum Text des Tages, bitten Sie jedoch, keine Personen zu verunglimpfen und deren Haltung mit Respekt zu begegnen. Danke schön. Verstösse gegen unser Leitbild werden indes nicht verbreitet.

 

Winterthurs kleinste Zeitung der Schweiz.