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«Wandzeitung» vom 15.1.2016:

Stalin hin oder her?

Russland: Erinnerung und Vergessen.

Am 20. Dezember war «Tag der Tschekisten», wie der «Tag der Mitarbeiter der Sicherheitsorgane» im Volksmund genannt wird. Wie andere martialisch klingende Ehrentage sowjetischer Tradition geriet dieser Tag in den letzten Jahren in den Hintergrund. «Tag des Vaterlandsverteidigers», «Tag der Luftwaffe», «Tag der Flotte» usw. – sie wurden zwar alle mehr oder weniger pompös begangen und mit Festkonzerten umkränzt, aber eigentlich gehörten sie der Vergangenheit an – nun sind sie auf einen Schlag wieder Gegenwart.

Russland führt wieder Krieg, und es kämpft auch wieder gegen Spione. Als Präsident Putin den Geheimdienstlern zur Enttarnung ganzer Hundertschaften von Spionen gratulierte, kamen bei vielen Russen gemischte Gefühle auf. Woher die wohl alle plötzlich gekommen waren?!

Das spöttische Wort «Tschekist», das von der ersten sowjetischen Geheimpolizei «Tscheka» herrührt, hat wieder etwas von seinem bösen und gefährlichen Klang von früher zurückerhalten. Zehntausende Morde an unschuldigen «Konterrevolutionären» und «Spionen» gehen auf das Konto der «Tscheka» und ihrer Nachfolgeorganisationen, deren blutiger Irrsinn in den stalinistischen Massenmorden und Verhaftungen der Dreissiger- und Vierzigerjahren gipfelte. Ist das alles schon vergessen?

Einerseits wohl schon, denn wie anders könnten in Russland wieder Stalin-Denkmäler und -Museen eröffnet werden, während man sich gleichzeitig über die (kommentierte) Neuauflage von Hitlers «Mein Kampf» in Deutschland empört? Wie wäre es sonst möglich, dass wieder dubiose Hausdurchsuchungen und Festnahmen unter Oppositionellen stattfinden und man harmlose Demonstranten für die Teilnahme an ungenehmigten Kundgebungen zu jahrelanger Lagerhaft verurteilt?

Andererseits – Nein! Denn sonst hätten am selben Tag, an denen die Geheimdienstler mit Orden und Festkonzerten überschwemmt wurden, nicht hunderte Menschen an Gedenkveranstaltungen an die Verbrechen Stalins erinnert. Sonst würde es auch die Aktion «Letzte Adresse» nicht geben, die mit kleinen Namenstafeln an die letzte Wohnadresse der zahllosen Verhafteten, Erschossenen und «Verschwundenen» während der Stalinzeit erinnert und die vom Kreml toleriert werden muss.

Es gibt das eiserne Schweigen vieler Russen zu Unrecht und Verbrechen, aber es gibt auch Menschen, die dagegen aufbegehren und die Dinge beim Namen nennen. Es gibt die Kommunisten, die das Denkmal des «Tscheka»-Gründers Felix Dscherschinski auf dem Platz vor der berüchtigten Geheimdienstzentrale «Lubjanka» wiederherstellen wollen. Aber es gibt auch Andersdenkende, wie der Polit-Künstler Pjotr Pawlenski, der am 9. November in einer spektakulären Aktion die Eingangstür dieser einstigen Folterstätte in Brand setzte, um gegen die «Bedrohung» zu demonstrieren.

Wie nie zuvor nach dem Ende des Sowjetsystems ist Russland hin- und hergerissen zwischen Erinnerung und Vergessen. Es sucht die Flucht in ein neues totalitäres System, aber dazu ist es gleichzeitig zu früh und zu spät. Zu früh, weil die Russen ihre Opfer noch nicht vergessen haben. Zu spät, weil die Sowjetunion schon viel zu lange begraben ist.

 


Eugen von Arb,
15.1.2016, 115. Jahrgang, Nr. 15.

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