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«Wandzeitung» vom 11.7.2016:

Demokratie ist mehr als Verfahren und Institutionen:

Protestwahl geht auch indirekt.

«Die Vernunft hat gesiegt.» So oder ähnlich hätte die triumphierende Schlagzeile gelautet, wenn das Pro-EU-Lager das Referendum gewonnen hätte. Niemand hätte Diskussionen angezettelt, wie man das Ergebnis wieder kippen kann, und das Instrument Referendum wäre nicht in Frage gestellt worden. Jetzt hört man sogar von links «Vergesst die Referenden!», während es aus der rechten Ecke tönt: «Bürgerbeteiligung ist der Kern moderner Politik.»

Beide Positionen verweisen auf eine Krise, die unabhängig und lange vor dem Brexit ausgebrochen ist. Unter dem Stichwort Postdemokratie wird dazu schon lange diskutiert. Während die demokratischen Institutionen formal weiterhin intakt sind und regelmässig Wahlen stattfinden, werden immer mehr Entscheidungen durch demokratisch nicht legitimierte Kräfte bestimmt: «Anleger müssen sich nicht mehr nach den Anlagemöglichkeiten richten, die ihnen ihre Regierung einräumt, vielmehr müssen sich die Regierungen nach den Wünschen der Anleger richten.» So ein ehemalige Chef der Deutschen Bank schon vor fünfzehn Jahren.

Hier wird deutlich, Demokratie ist mehr als Verfahren und Institutionen. Dieser Rahmen muss auch mit Substanz gefüllt werden. Letztlich geht es darum, dass jeder so weit wie möglich über seine Lebensumstände verfügen kann. Und dazu gehört als Voraussetzung die entsprechende ökonomische Lage. Gerechtigkeit und Demokratie müssen konzeptionell miteinander verknüpft werden. Man kann nicht über Demokratie reden und über Gerechtigkeit schweigen.

Den Ausschlag für den Ausgang des Brexit-Referendums haben die Abgehängten gegeben, die ohne Job oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen, die ohne Vermögen, ohne höhere Bildung und ohne fette Rente. Ein Drittel der traditionellen Labour-Wähler war für den Brexit. Wenn die Abgehängten ihren Protest über ein Referendum äussern, ist das legitim. Das Gleiche geschieht ja auch bei repräsentativen Wahlen, wie wir gerade am Wahlkampf in den USA sehen. Auch die Erfolge linker Parteien in Südeuropa zeigen, dass zwischen Protest und dem Entscheidungsmodus – plebiszitär oder repräsentativ – kein zwingender Zusammenhang besteht.

Umgekehrt funktioniert die Kombination von repräsentativer Demokratie und Volksbefragungen in der Schweiz ohne nennenswerte Verwerfungen. Warum sollte das nicht auch in anderen europäischen Ländern funktionieren?

Natürlich ist es ein Problem, dass sich ein Drittel der Brexit-Befürworter aus Anhängern der EU-feindlichen Partei UKIP rekrutiert. Aber Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit sind keine angeborenen Eigenschaften von Menschen, sondern entstehen aus dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Um ihren sozialen Status zu kompensieren, werden Abgehängte für Ideologien empfänglich, die ihnen scheinbar Stärke und Wertschätzung verleihen. «Jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz seyn könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu seyn.» (Schopenhauer) Entscheidend ist, dass die Gesellschaft Menschen gar nicht erst zu Erbärmlichkeit absinken lässt.

 

 


Ludi Fuchs,
11.7.2016, 115. Jahrgang, Nr. 193.

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