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«Wandzeitung» vom 12.1.2016:

Alles wird anders:

Mein neues Leben ohne Dich.

«Daheim ist es mir am wohlsten», stelltest Du zirka zwei Wochen vor Deinem Ableben fest. Zufrieden lächelnd sassest Du in Deinem Sessel. An meinem Geburtstag Ende Mai wussten wir, dass es ernst war und nicht besser werden würde. «Es kann schnell gehen», sagtest Du. Seit Du nicht mehr hier bist, denke ich an jene Worte und Deinen klaren, wachen Blick zurück. Dass es von einem Tag auf den anderen gehen würde, darauf war ich trotzdem nicht vorbereitet. Als ich Dich leblos fand, war ich ruhig und ich redete mit Dir. Dass es mir leid tat, dass ich nicht da war, als Du gingst – oh Papi! – ich bedankte mich für alles, was Du mir gegeben hast. Die Todesanzeige, die ich zwei Tage später verfasste, war eine natürliche Wiederaufnahme dieses Monologes. Noch viele Tage danach fühlte ich mich eigenartig ruhig.

Wenn ich um Dich war, empfand ich Frieden. Wenn ich mich gehetzt fühle, höre ich Dich sagen: «Nur die Ruhe kann es bringen». Du lebtest, was Du sagtest, und warst stets besonnen. Ein Schlüsselmoment: Anfangs August 2015 an einem heissen Sommertag fuhrst Du uns auf einen Parkplatz. Du wähltest nicht den zweitbesten Parkplatz, wie ich es getan hätte. Schliesslich parkiertest Du in der Nähe eines Baumes und meintest: «In einer halben Stunde steht das Auto im Schatten». Mit 86 Jahren warst Du so besonnen und klar, wie ich es wohl nie sein werde. Als Du anfangs 80 warst, täfertest Du die Decken zweier Kellerräume und bautest in meinem Jugendzimmer ein Regal für Deine Bücher ein. Du lasest Zeitungen, schautest Dokumentarfilme und bildetest Dir wie immer Deine eigene Meinung. Ich merkte schon früh: Du kennst die Zusammenhänge, weisst auf alle meine Fragen eine Antwort. So wollte ich auch werden. Jemand schrieb in einer Trauerkarte, dass Du wusstest, Deine Lebenszeit zu nutzen. Im Zug schautest Du raus, erst beim Einnachten lasest Du die mitgebrachte Zeitung. Du hattest so viele Wanderrouten im Kopf, kanntest so viele Berggipfel. Und es war Dir peinlich, wenn Dir der Name einer Person, die Du schon länger nicht mehr gesehen hattest, nicht einfiel ...

In den letzten Monaten fehlte Dir oft die Motivation, spazieren zu gehen und der ausbleibende Appetit störte Dich sehr. Dafür warst Du kommunikativ wie nie zuvor. Es war, als ob Du im richtigen Moment Deine Joker-Karte gezogen hättest. Je mehr Zeit vergeht, desto schmerzlicher ist es, dass Du nicht plötzlich wieder auftauchst. Dafür habe ich oft das Gefühl, dass Du mit mir am Tisch sitzt oder mich überallhin begleitest. Im Moment bin ich in Chile. Im Viertel, wo Paola lebt, waren auch Mami und Du. Ich gehe durch die Strasse, die Ihr gingt. Gestern hat mir Paola erzählt, dass der Baum, den Du vor zirka 30 Jahren in Pastahue im Süden Chiles gepflanzt hast, vor kurzem ausgetrocknet ist.

«Das Leben geht weiter», sagtest Du an meinem Geburtstag. Noch begreife ich mein Leben ohne Dich nicht. Eine Freundin von Mami schrieb, dass ich das Glück gehabt hätte, liebevolle, eigenständige, kluge Eltern gehabt zu haben. Und dass ich nun Trägerin dieses wertvollen Erbes sei und andere Menschen damit beschenken könne. Dies sehe ich als Ansporn und Verpflichtung.

 


Rosmarie Schoop,
12.1.2016, 115. Jahrgang, Nr. 12.

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