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«Wandzeitung» vom 22.8.2017:

Wunschkind:

Aufstehen und weiter rennen.

Trotz fortgeschrittenem Alter (35) und Mindestvoraussetzungen (eine Beziehung zu einem Mann), bin ich noch immer nicht sicher, ob ich Kinder möchte. Also eigentlich verhält es sich ein bisschen so, dass ich schon welche wollen würde, einfach nicht jetzt und nicht hier. Ich würde sie wollen, wenn ich dieses und jenes erledigt hätte und wenn ich in einem indischen Bergdorf leben würde, wo mir die Frauen dann zeigen würden, wie man Kinder aufzieht, ohne dass sie zu verzogenen Monstern werden. Denn so kommen mir die meisten Kinder, die ich kenne, vor. Wie Ungeheuer, in denen sich alles Niedere und Abgründige des Menschseins in verdichteter Form manifestiert. Das, was unter der zivilisierten Oberfläche in uns allen schlummert. Die Lust am Dominieren, Besitzen, Unterdrücken, Herumkommandieren. Immer die oder der Beste sein zu wollen.

Gestern war ich an einem Kindergeburtstag. Es gab viele Kinder und noch mehr Geschenke, und ich kam nicht umhin mich zu fragen, was aus all den Geschenken werden sollte, wenn der Tag vorbei sein würde. Ein einziges vierjähriges Kind konnte unmöglich für so viele verschiedene Spielsachen Verwendung finden. Obwohl, das stimmt natürlich nicht. Der Kleine kann auf seinem Kindercomputer gamen, dabei im neuen Indianerzelt sitzen, wenn er müde ist eine Märchen-CD hören oder ein Puzzle machen. Wenn es heiss wird, kann er mit dem Traktor zum Wasserbassin fahren und ein Bad nehmen. Das ist eigentlich nicht übertrieben. Ich besitze mindestens so viele Sachen, um mir die Zeit zu vertreiben. Trotzdem hatte ich an diesem Kindergeburtstag das Gefühl, dass die Gummibärchen sogar das Tipizelt in den Schatten stellten. Bei den Gummibärchen drehten die Kinder durch. Ihre rohe Triebhaftigkeit erinnerte mich an meine vorgetäuschte Zurückhaltung.

Während die Kinder ungehemmt «GUUUUUUMMMMIIIIBÄÄÄÄÄÄRLI!!!!!» riefen und einen Freudentanz veranstalteten, gleichzeitig die Packung aufrissen und sich wie wilde Tiere über den Inhalt hermachten, hielt ich gepflegt ein Schwätzchen. Doch mein wahres Interesse galt der Frage, was es zu Essen geben würde, und wann. Kinder sind also ehrlich und sie sind auch süss, wenn sie nicht gerade monstermässig Krawall machen. Eines der Kinder, ein Mädchen, war genauso wild wie die Jungs. Das war auffällig, denn die anderen Mädchen waren eher ruhig und blieben untereinander. Wahrscheinlich fürchteten sie um ihr Leben. Dieses andere Mädchen jedenfalls schien vor nichts Angst zu haben. Es ist erst zwei Jahre alt, fuhr aber mit dem Velo den Hang hinunter, knallte in einen Pfosten, fiel vom Velo, stieg wieder auf, kletterte die Rutschbahn hoch, wurde von einem Jungen erfasst, der gerade runtersauste, knallte auf den Boden, stand wieder auf, rannte los. Und so ging es immer weiter, und ich beobachtete das Mädchen und war fasziniert.

Dieses Kind schien ein gutes Leben vor sich zu haben. Ein einfaches, unkompliziertes Leben, wo man einfach immer wieder aufsteht, nachdem man umgefallen ist und einfach drauflosrennt, ohne Rücksicht auf Verluste. So ein Kind würde ich auch wollen.


Anita Blumer,
22.8.2017, 116. Jahrgang, Nr. 234.

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