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«Wandzeitung» vom 10.8.2017:

Ich wertloses Individuum schaffe es nicht, einen Text pünktlich abzuschicken:

Tolles Ersatztext-Prinzip.

Wenn Sie diese Zeilen lesen, habe ich versagt. Vor Ihnen liegt mein Ersatz-Text. Also jener, welcher nur dann gedruckt beziehungsweise online gestellt wird, wenn ich den Abgabetermin wieder einmal verschwitzt habe. Während des Schreibens schwanke ich zwischen «Ist ja eigentlich ganz effizient, so ein Ersatz-Text-Prinzip, toll!» und «Ich wertloses Individuum schaffe es nicht einmal, einen Text pünktlich abzuschicken!» Letzteres Gefühl habe ich oft, in mehr oder weniger intensiver Ausprägung. Ich fühle mich als Versagerin, weil ich Ansprüchen scheinbar nicht gerecht werde. Die Anforderungen steigen stetig und wir unterwerfen uns, verfolgt von gefilterten, gefotoshoppten Instagram- und Facebook-Posts, auf der Jagd nach dem Hochgefühl, welches einem der Neid der anderen (von wem eigentlich genau?) verschafft.

Die Vorstellung, dass andere sich unsere Ferienfotos von den Seychellen reinziehen und dann traurig an die eigenen Zeltferien im Tessin denken, bringt uns doch alle zum Sabbern. Seien wir ehrlich: Deswegen postet der Mensch doch überhaupt. Nicht etwa, um seinen Liebsten Leben und Alltag nahe zu bringen, um Freud und Leid online zu teilen, bullshit! Als würde man Leid teilen, geschweige denn zugeben wollen! Nein, es geht darum, Klara, die man schon in der dritten Klasse eigentlich nicht mochte, zu beweisen, dass das eigene Leben besser ist als ihres. Dazu nerven wir den Partner am Seychellen-Strand, weil der Winkel des zu postenden Strandfotos genau richtig sein muss. Etwas von oben herab, um schlanker zu wirken, aber nicht zu steil, sonst sieht die Stirn immer so grotesk gross aus. (Perfekt dazu: ein Selfie-Stick. Die Erfindung, welche unseren unbequemen Selbstdarstellungszwang so wunderbar verbildlicht.)

Das Lächeln muss ungezwungen wirken. Etwas Zähne zeigen, aber nicht so, dass die Krähenfüsse um die Augen sichtbar werden. Brust raus, Bauch rein, wie schon vor hundert Jahren. Im Kopf ergötzt man sich bereits an der Vorstellung von Klaras blöder Fresse, wenn sie am nächsten Morgen auf dem Klo sitzend und ahnungslos ihren Facebook-Feed durchscrollend von der Verewigung unseres erfüllten Lebens an exotischen Destinationen überrascht wird. BÄM, stellt man sich dann vor, da guckst du, Klara!

Die spontane Reaktion Klaras auf dieses unter-die-Nase-Reibens des gestellten Glücks ist nicht vorherzusagen. Ziemlich sicher ist jedoch, dass Klara sich beim Schiessen ihrer nächsten Ferienfotos den Winkel der Kamera besser überlegen, sich ein adäquates Strandoutfit zulegen und die Zähne vor dem Urlaub zur Sicherheit nochmals belachen lassen wird.

Denn Klara ist, wie wir alle, eben nicht gefeit von dem Virus, das uns befallen hat: dem Optimierungswahn, angestachelt von der gefakten Selbstdarstellung unserer Umgebung, am Leben gehalten durch ein inneres Gefühl, niemals gut genug zu sein. Deshalb hoffe ich, dass Sie, wenn Sie diesen Text lesen, etwas Entspannung finden und sich sagen können: Ist doch gar nicht so schlimm, dass bei mir nicht immer alles klappt, die Gute hier schafft es ja noch nicht einmal, einmal alle zwei Monate pünktlich einen Text abzugeben.


Anita Hofer,
10.8.2017, 116. Jahrgang, Nr. 222.

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